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Zurück aus der Normandie

Paris, 6. Oktober 1737

„Lasst um Himmels Willen diese Kiste nicht fallen! Da sind 12 Flaschen Eau de Vie de Sydre drin. Ich bin nicht sicher, ob sie nicht explodieren, wenn sie herunterfallen!“, rief Catherine. Sie war gerade dabei, sich die Handschuhe herunterstreifen, als sie ein gefährliches Scheppern und Klirren aus dem Aufgang zur Kutscheneinfahrt hörte. Innerlich rollte sie die Augen, fühlte aber keine Neigung, nachsehen zu gehen. Der letzte Teil der Fahrt nach Paris war äußerst nervtötend gewesen, und sie verstand einmal mehr, warum die meisten Frauen ihre Kinder praktisch komplett an Ammen, Kinderfrauen oder Gouvernanten abgaben. Auf der Höhe von Saint Cloud war sie nicht sicher gewesen, ob sie zuerst Elian oder Constance aus der Kutsche werfen sollte. Vielleicht ein Kind nach rechts und eines nach links? Oder Elian zu den Pferden spannen, damit er seine überschüssige Energie abarbeiten konnte und Constance hinten anbinden? Und diese unfähige Kinderfrau Elise gleich dazu. Mon Dieu, der Überfall von Straßenräubern wäre eine willkommene Abwechslung und ungleich weniger nervenaufreibend gewesen als das, was ihre Kinder abgezogen hatten! Wenn nur Hugo wenigstens dabei gewesen wäre! Ihrem Mann gelang es scheinbar mühelos, die Kinder zu bändigen. Aber Hugo war bereits eine Woche früher abgereist, weil ein Eilbote ihn davon informiert hatte, dass die Hermes, ein Schiff an dem er die Mehrheit der Anteile besaß, unerwartet früh aus der Karibik zurückgekehrt sei. Natürlich hatte Hugo alles stehen und liegen gelassen und war nach Honfleur geritten. Immerhin steckte ein beträchtlicher Teil seines Vermögens in diesem Schiff und seiner Ladung. Catherine hatte sich daran gewöhnt, dass für Hugo das Geschäft vor allem anderen kam und schließlich ermöglichte ihr genau diese Einstellung, dass sie selbst nicht nur über Wohlstand, sondern auch ein ungewöhnlich großzügiges Maß an Unabhängigkeit verfügte.

„Nichts passiert, Madame!“, rief Claude, der neue Hausbursche, jetzt recht keck zurück. Thomás, der Butler, würde ihm vermutlich gleich die Ohren langziehen. Catherine beschloss, den weiteren Aufruhr, den das Entladen des Gepäcks mit sich brachte, zu ignorieren und sich stattdessen dem Sichten der Post zu widmen, die in ihrer Abwesenheit aufgelaufen war. Einiges hatte Eugenie, die Hausdame, ihr in die Normandie nachgeschickt. Aber für die letzten zwei Wochen hatte sich das natürlich nicht mehr gelohnt, und so waren es doch etliche Briefe, Karten und Billets, die sich auf dem zierlichen Mahagoni-Sekretär im Erker des Salons stapelten.

„Maman! Maman!“ Kinderfüße trampelten über Treppen, Damenstiefel stöckelten hinterdrein.

„Monsieur Elian! Sofort kommt Ihr wieder hinauf! Eure Frau Maman möchte nun nicht mehr gestört werden!“ Catherine rollte mit den Augen. Wurde ihr Sohn eigentlich niemals müde? Wenigstens darin war Constance pflegeleicht: Wann immer sie konnte, zog sie sich zurück und beschäftigte sich mit sich selbst.

„Elian, wenn du in mich hinein rammst, versohle ich dir den Hintern!“, warnte Catherine und stemmte vorsichtshalber ihre Füße auf den Boden. Schon stürmte ihr sechsjähriger Sohn in den großen Salon, der wegen der überwiegend in sonnengelb gehaltenen Ausstattung auch der Sonnensalon genannt wurde.

„Maman!“, schrie Elian, wie üblich so laut, dass es einen Marktschreier auf der Place de Grève beschämt hätte. Schliddernd kam er vor seiner Mutter zum Stehen. Seine braunen Augen, ganz die seines Vaters, leuchteten unter seinen langen gebogenen Wimpern hervor. Seit er dem Kinderkleidchen entwachsen war und Culotte, Hemd, Weste und bei Bedarf Justaucorps trug, ähnelte er seinem Vater wirklich verblüffend. Nur seine Manieren entsprachen leider nicht im Entferntesten denen des Vicomte du Foix!

„Maman, in unserem Kinderzimmer ist ein Schwalbennest, und die Vögel haben das ganze Fensterbrett vollgekackt!“, berichtete Elian begeistert, schaffte es aber immerhin, kurz vor dem Rocksaum seiner Mutter zum Stehen zu kommen. Im Türrahmen erschien mit rotem Kopf und aufgerissenem Mund die Kinderfrau Elise.

„Ich bitte um Vergebung Madame, dass Ihr belästigt werdet. Ich…“, keuchte sie. Sie war gar keine füllige Person, erweckte aber immer diesen Eindruck. Catherine hatte Elise im vergangenen Jahr eingestellt, weil die von den Kindern sehr geliebte Amme unvermutet an einem Winterfieber gestorben war. Elise war eine jüngere Tochter aus einer bürgerlichen Familie, die immerhin eine gewisse Bildung mitbrachte. Aber Catherine musste mehr und mehr feststellen, dass die Frau ein Fehlgriff war. Sie war weder Elians Temperament noch Constances Dickschädel gewachsen.

„Elian, wo hast du diesen schreckliche Ausdruck her?“, schnitt sie Elise das Wort ab und funkelte ihren Sohn streng an. Der riss die Augen erstaunt auf – der kleine Gauner wusste leider nur zu genau, wie hinreißend er dann aussah – und öffnete dazu auch noch in einem perfekten O den Mund. Als er die erhoffte Wirkung nicht erzielte, trat kurz ein grüblerischer Ausdruck in sein hübsches Gesicht. Dann hellte sich seine Miene wieder auf.

„Gekackt?“, vergewisserte er sich, wobei er das verbotene Wort ein letztes Mal voll auskostete. Catherine behielt eine Miene aus Erz bei und verkniff den Mund dazu. Für Elian sah das so aus, als wäre seine Mutter kurz vor einer furchtbaren Schimpfkanonade, und so wechselte er vorsichtshalber zu einem zerknirschten Gesichtsausdruck. Zu Catherines Glück hatte er noch nicht erkannt, dass sie sich in solchen Fällen ein Lachen verkneifen musste.

„Das hat Onkel Philippe gesagt. ‚Jetzt haben mir diese verdammten Schwalben auf den Sattel gekackt‘‘. Es war verblüffend, wie gut Elian ihren jüngeren Bruder Philippe dabei imitierte. Oh ja, die beiden hatten sich großartig verstanden. Natürlich hatte Philippe, der schließlich ein Ecuyer und Pferdezüchter war, die Zeit ihres gemeinsamen Aufenthaltes auf dem heimischen Gut genutzt, seinem Neffen das Reiten beizubringen. Elian war begeistert gewesen, wenn er auch die langweiligen Sitzkorrekturen lieber ausgelassen und gleich zum Galoppieren übergegangen wäre. „Schneid hat er und den Rest kriegen wir auch noch hin“, hatte Philippe befunden.

„Dein Onkel Philippe vergisst leider gelegentlich, dass er kein Stallbursche ist. Aber von dir werde ich solche Ausdrücke nicht dulden. Wie heißt es stattdessen?“ Catherine behielt ihre strenge Miene eisern bei, während Elise im Hintergrund hin- und hertrippelte, als stünde sie barfuß auf einem heißen Stein. Elian legte seine Stirn in Falten, was in dem glatten Kindergesicht urkomisch aussah, und dachte angestrengt nach.

„Die Schwalben mussten mal und sind dafür aufs Fensterbrett gegangen“, versuchte er es. Aber dann schüttelte er den Kopf. „Das ist aber umständlich!“, fand er dann. Catherines Mundwinkel zuckten.

„Da gebe ich dir Recht. In der Tat redet ein Gentilhomme überhaupt nicht über solcherlei Dinge. Ein solches Sujet ist einfach keiner Erwähnung für ihn wert und als Gesprächsgegenstand ist es niemals geeignet. Man weist die Bediensteten an, sich um die Sache zu kümmern und damit hat es sich.“

„Oh.“ Elian verzog enttäuscht das Gesicht. „Aber…“

„Kein Aber! Du wirst nun mit Elise zusammen in die Küche gehen, dir dort einen Putzeimer, eine Scheuerbürste und was sonst nötig ist geben lassen und anschließend das Fensterbrett gründlich säubern“, wies Catherine ihren Sohn an. Es hatte nie Sinn, sich mit diesem kleinen Teufel auf eine Diskussion einzulassen. Streng sah sie ihren Sohn an. Auf dessen Gesicht wechselten die Stimmungen so schnell wie Blitze, die über einen Gewitterhimmel zuckten. Catherine konnte sie lesen wie ein Buch: Muss das sein? Kann ich das Elise zuschanzen? Wie fühlt sich Schwalbenscheiße wohl an? Kann ich Constance damit ärgern? Wird das lustig?

„Komm Elise, ich muss dich anweisen, die Schwalbenkacke wegzumachen!“, sagte er dann mit seiner gewohnten Energie und schickte sich an, aus dem Salon zu marschieren.

„Elian!“, rief Catherine ihn mahnend zurück. Die Absätze von Elians Reisestiefelchen bohrten sich förmlich in den Perserteppich, als er kehrtmachte, und seiner Maman den Salon-Handkuss gab, den sie für jeglichen formellen Abschied eingeübt hatten. „Madame Maman, ich bitte um die Erlaubnis, mich zurückzuziehen“, sagte er in vollendeter Salonsprache, die er ebenso mühelos beherrschte wie er den Stalljargon in Falabraque gelernt hatte.

„Ich erlaube es dir, mein Sohn!“, beschied ihm Catherine. Endlich waren Sohn und Kinderfrau aus dem Zimmer, und Catherine konnte sich endlich ein Schmunzeln erlauben. Elian mochte ihr den letzten Nerv rauben, aber er war ein steter Quell der Erheiterung. Ganz im Gegensatz zu Constance, bei der sich bereits im zarten Alter von 2 Jahren ein unangenehm sturer Wesenszug gezeigt hatte. Jetzt, mit 7 Jahren, hatte sich diese Unart derartig manifestiert, dass Catherine häufig schier an ihrer Tochter verzweifelte. „Aber du warst genauso!“, hatte ihre Mutter belustigt ausgerufen, als sie sich im Juli alle auf Falabraque getroffen hatten.

„Was, ich? Niemals!“, hatte Catherine empört dagegengehalten. Alle um sie herum hatten gekichert, sich geräuspert oder beredt geschwiegen. Catherine hatte fassungslos in die Runde geschaut. Mit großem Ernst hatte ihre Mutter, Constanza Elena Garcia de los Cadavales, nach der ihre erste Enkelin benannt war, genickt.

„Oh doch!“, sagte sie.

Seitdem brachte Catherine ihrer Tochter etwas mehr Verständnis entgegen. Trotzdem war ihr Verhältnis immer etwas angespannt. Constance war mit großer Wahrscheinlichkeit das Kind ihres Liebhabers Jean-Marc Liévre. Folglich hatte Catherine eigentlich erwartet, es besonders lieben zu können. Während Elian von ihrem Ehemann Hugo du Foix stammte, den sie zwar schätzte, den sie sogar mochte, den sie aber einfach nicht lieben konnte. Elian hatte sie ihm aus Wertschätzung und Loyalität geboren. Aber nun war es so, dass ihr der temperamentvolle, fantasie- und temporeiche Elian viel näher lag, als die beobachtende, sturköpfige Constance. Wie das Leben eben manchmal so spielte.

Zwei weitere Schwangerschaften nach Elian hatte sie diskret von einer Engelmacherin beseitigen lassen. Sie fand, dass sie ihre Schuldigkeit getan hatte und wollte sich endlich ihren eigentlichen Zielen zuwenden: einen Pariser Salon einzurichten, der in einigen Jahren so berühmt werden sollte, wie es einst der der Marquise de Rambouillet gewesen war. Mit Hugo teilte sie inzwischen das Bett ohnehin nicht mehr. Sie nahm an, dass er immer wieder mal eine Geliebte hatte, aber im Grunde war er ohnehin mit seinem Geschäft verheiratet. Ihre Treffen mit Jean-Marc waren da viel gefährlicher, denn mit ihm verband sie vor allem die Lust am Liebesspiel. Nun, jedenfalls soweit es sie betraf. Jean-Marc war immer noch rettungslos in Catherine verliebt und manchmal tat er ihr regelrecht leid deshalb. Sie konnte doch auch nichts dafür, dass sie niemanden so richtig lieben konnte! Eine Weile hatte sie gedacht, sie könne vielleicht lesbisch sein. Aber so vergnüglich ihre Ausflüge in das Bett ihrer Freundin Annette de Tourville gewesen waren – Liebe war auch nicht daraus geworden. Catherine betrachtete sich selbst in dieser Angelegenheit inzwischen mit einer Art fatalistischem Spott und der einzige, mit dem sie je darüber geredet hatte, war ihr Zwillingsbruder Charles gewesen.

„Ich glaube, du wärst der einzige Mensch, in den ich mich je hätte verlieben können“, hatte sie ihm einmal in einer langen Nacht, bei der einige Flaschen von Hugos bestem Rotwein eine Rolle gespielt hatten, anvertraut. Charles, noch viel betrunkener als seine Schwester, hatte sein Glas in einem feierlichen Salut gehoben und geantwortet: „Es ist mir eine Ehre, geliebte Schwester!“ Dann hatte er gehickst. Aber das lag auch schon wieder mindestens drei Jahre zurück. Ach Charles, ihr viel zu kluger Bruder! Sie hoffte, er würde am nächsten Donnerstag zu ihrem Salon auftauchen. Sie vermisste ihn! Er hatte die ländliche Sommeridylle in der Normandie ausgelassen.

„Keine Zeit!“, hatte er auf Nachfrage gesagt. Außerdem war er erst vier Wochen zuvor aus England zurückgekommen, wo er sich wieder einmal mit den Empirikern der Londoner Society of Science getroffen hatte. Auf der Rückreise hatte er Falabraque und somit ihrer Mutter ohnehin einen Besuch abgestattet. Also hatte sie ihn jetzt seit mehr als drei Monaten nicht gesehen und das war immer, als fehle ihr ein Körperteil. Sie würde ihm einen Brief senden, um ihn an den Salon zu erinnern. Charles war genial, aber Termine, die nicht seine Projekte betrafen, pflegte er gern mal zu vergessen.

Catherine nahm wieder die Briefe zur Hand, bei deren Durchsicht Elian sie unterbrochen hatte. Und ihr Gesicht hellte sich auf, als sie einige Zusagen für den Salon darin fand, auf die sie gehofft hatte. Ihre alte Freundin Adeliz Drummond hatte ihr bereits vor Wochen mitgeteilt, dass sie zu diesem Zeitpunkt sicher in Versailles weilen und somit nicht kommen würde. Schade, aber nicht zu ändern – Adeliz würde schon wieder auftauchen und dann mit brandneuem Hofklatsch, soviel war sicher. Dafür fand sie die erwartete Zusage von Annette – allerdings kündigte sie in ihrer Nachricht an, eine neue Gespielin mitzubringen. Himmel, Annette wechselte ihre Liebhaberinnen inzwischen doch recht häufig. Dabei schienen die Mädchen immer jünger zu werden. Nun ja, genau genommen behielten die Mädchen stets dasselbe Alter und es waren vielmehr Annette und leider auch sie selbst, die stetig älter wurden. Jetzt war es also eine Aurelie. Hoffentlich war sie interessant, amüsant und intelligent und somit ein Zugewinn für den Salon!

Auch andere Stammgäste kündigten an, mit diesem oder jenem Anhang zu kommen, einige altvertraut, andere neu. Der erste Salon nach dem öden Sommer war immer besonders interessant. Catherine spürte, wie sich ein angenehmes Prickeln in ihrem Bauch ausbreitete. Endlich! Endlich wieder Paris! Endlich wieder Salons! Endlich wieder Leben!

Aurelie

Juni 1737

Aristide Baron d’Argentcourt hatte an der ruhmreichen Schlacht von Denain als Dragoneroffizier teilgenommen. Wollte man seinen Erzählungen glauben, war er an vorderster Front mit seinen Mannen schnurstracks ins Zentrum der niederländischen Armee vorgedrungen und wäre er nicht am Bein verwundet worden, wäre sicher er persönlich es gewesen, der ihren General Arnold van Keppel gefangen genommen hätte. Diese ruhmreichen Tage lagen zwar nun schon 25 Jahre zurück, aber das änderte ja nun gar nichts an den herrlichen Tatsachen. Sicher, aus dem ehemals schlanken Dragoneroffizier war mittlerweile ein ziemlich fülliger Hausvorstand geworden. Doch er sah auf Anstand und Ordnung in seinem Hause, jawohl! Seine Frau Melisande, 20 Jahre jünger als er selbst, war sein Sergeant, die die Truppen – Kinder und Dienerschaft – in seinem Sinne führte. Sie hatte ihm im Laufe der Jahre 9 lebende Kinder geschenkt. Die beiden ältesten Töchter – es waren beklagenswerterweise mehr Mädchen als Jungen – waren bereits vorteilhaft verheiratet und von den Jungen waren die drei Ältesten bereits zur militärischen Ausbildung in verschiedenen namhaften Regimentern untergebracht. Heute nun sollte der nächste Sieg errungen werden: Niemand Geringeres als ein Gardeleutnant hatte um die Hand von Aurelie, seiner drittältesten Tochter angehalten. Das hatte Melisande geschickt eingefädelt und in den letzten Wochen mit großer Beharrlichkeit und dennoch behutsam in die Wege geleitet. Sie war eine so geschickte Strategin! Der Gardeleutnant verfügte mit seinen 32 Jahren über die nötige Standfestigkeit im Leben und würde die sprunghafte Aurelie mit straffer Hand zu führen wissen.
Zufrieden und gewichtig schritt Aristide die Treppe seines Hauses hinunter und begab sich ins Speisezimmer, wo die Familie ihn bereits erwartete – ganz so, wie er es schon vor langer Zeit eingerichtet hatte: Melisande und die Kinder aufgereiht vor dem schweren, auf Hochglanz polierten Eichenbuffet, über dem zwei gekreuzte Dragonersäbel über dem Familienwappen die getäfelte Wand schmückten. Erst nach der Inspektion der Truppe, durften sich alle zu Tisch begeben und dann dem lauschen, was er zu sagen hatte.
Auch heute waren Melisande, Aurelie, Marie-Elise, Gaspard und Robert angetreten. Aurelie war mit ihren 17 Jahren die Älteste der noch im Haus verbliebenen Kinder, der entzückende Robert mit 12 Jahren der Jüngste. Der vierzehnjährige Gaspard würde das Haus noch in diesem Herbst verlassen – es schadete nur, wenn er noch länger dem verweichlichenden Einfluss seiner Mutter ausgesetzt blieb.
„Ihr dürft euch setzen. Marie-Elise, sprich das Tischgebet!“
Nachdem sie die cremige Maronensuppe schweigend genossen hatten und die Dienerschaft mit dem Vorlegen des Hauptgangs fertig war, nahm Aristide seine übliche Ansprachenhaltung an.
„Heute ist ein freudiger Tag!“, begann er, wobei seine Stimme immer die Kristallfacetten des Lüsters leicht klirren ließ. Die Gewohnheit, einen Exerzierplatz füllen zu müssen, legte sich eben nicht so leicht ab. Verdrehte Aurelie etwa die Augen? Unvorstellbar! Nein, er musste sich geirrt haben, denn jetzt starrte sie wieder züchtig, wie es sich gehörte, auf ihren Teller.
„Wir erwarten heute Nachmittag Besuch“, fuhr Aristide unbeirrbar fort. Einzig seine Frau strahlte erwartungsvoll in die Runde, während die Kinder allesamt artig lauschten.
„Der Leutnant der Stadtgarde, der ehrenwerte Chevalier Bruno Lagrange, wird um vier Uhr am Nachmittag seine Aufwartung machen. Aurelie!“ Mit aufwärtsmoduliertem Tonfall, der einen Rekruten die Hacken hätte zusammenschlagen lassen, wandte sich der Baron seiner Tochter zu. Die hob jedoch eher langsam den Kopf, wobei sie mit der Gabel ein Stückchen Kartoffel auf ihrem Teller herumschob.
„Ja Monsieur Papa?“, sagte sie, wobei sie den Mund nur genau so weit bewegte, wie unbedingt nötig.
„Du kannst dir vermutlich bereits denken, worum es geht. Also gib dir Mühe bei deiner Garderobe und zeige dich von deiner besten Seite! Das ist eine sehr gute Partie!“
„Ich wünsche nicht, den Chevalier Lagrange zu heiraten.“
Baron d’Argentcourt brauchte einen Moment, bis dieser Satz den Weg von seinen Ohren bis zu seiner Auffassungsgabe zurückgelegt hatte. Oder vielmehr konnte er einfach nicht glauben, dass er gehört hatte, was er gehört hatte. Das unterdrückte Keuchen seiner Frau und ein mehr fühl- als hörbares Einatmen der übrigen Kinder verriet ihm jedoch, dass Aurelie gerade tatsächlich ihren abschlägigen Wunsch kundgetan hatte. Er starrte sie dennoch einen weiteren Moment an, ehe er donnerte: „WIE war das gerade?“
„Ich wünsche nicht, den Chevalier Lagrange zu heiraten“, wiederholte Aurelie wie ein Echo ihre erste Aussage. Dabei sah sie ihrem Vater mit leicht vorgerecktem Kinn genau in die Augen. Die Gabel war nun fest in eine Kartoffel gespießt.
„Das ist nicht akzeptabel! Die Ehe wurde bereits arrangiert und versprochen. Es ist eine reine Artigkeit, dass der Chevalier uns nachher aufsucht, um dir persönlich seine Aufwartung zu machen. Du wirst dankbar sein und tun, was von dir erwartet wird!“ Baron d’Argentcourt hatte seine Fassung nun wiedergewonnen. Aurelie, natürlich, sie war letzthin etwas widerspenstig geworden. Umso wichtiger, dass sie endlich verheiratet wurde! Aber er war ja ein geduldiger Vater, nicht wahr und würde sie nun nicht einfach anschreien.
„Ich bitte Euch um Verzeihung, Monsieur le Papa, aber der Chevalier wird von mir ein Nein bekommen“. Aurelies Stimme blieb gedämpft, aber ihre Haltung war steif, mehr als gerade, ihr Kopf hoch erhoben, die Schultern gestrafft. Solch ein Trotz!
„Das wird er natürlich nicht! Das ist ganz und gar undenkbar! Du wirst seinen Antrag selbstverständlich annehmen!“ Ein letztes Mal wahrte Baron d’Argentcourt die Ruhe, legte aber alle Bestimmtheit eines Offiziers in seine Stimme.
„Wenn Ihr das sagt, Monsieur le Papa, werde ich Euch nicht weiter widersprechen. Ich sage Euch nur jetzt und hier, was ich nachher und dort antworten werde!“ Aurelie wankte nicht, aber die Kartoffel war unter ihrer Gabel inzwischen zu Püree geworden.
„Marie-Elise, Gaspard, Robert: Hinaus!“, befahl der Baron barsch. Aurelies Geschwister leisteten so schnell Folge, dass es schien, als wären sie nie da gewesen.
„Aurelie, aufstehen!“
Man schickte einen Boten zu Leutnant der Garde, Chevalier Bruno Lagrange. Aurelie sei leider kurzfristig erkrankt. Ein leichtes Herbstfieber, nichts Schlimmes, eher eine weibliche Unpässlichkeit, aber man bitte doch um Verständnis, den Termin um einige Tage zu verschieben. Natürlich ändere das NICHTS an den getroffenen Absprachen, selbstverständlich nicht!
Als Baron d’Argentcourt seine Geduld und seine Stimmbänder restlos aufgebraucht hatte, wurde Aurelie in einer kleinen Kammer im Dienstbotentrakt einesperrt.
„Dort bleibst du, bis zu wieder zu Verstand kommst“, tobte ihr Vater, als er sie höchst eigenhändig dort hinein verfrachtete.
„Ich bin ganz und gar bei Verstand!“, wagte Aurelie immer noch Widerstand zu leisten. Vermutlich hatte sie Glück, dass ihr Vater bereits die Tür ins Schloss warf, dass der Rahmen ächzte. Mit so viel Nachdruck, wie ein Stück Metall nur aufbringen konnte, wurde der Schlüssel im Schloss herumgedreht. Durch ein winziges Loch weit oben fiel ein kleines bisschen Licht in die Kammer, die auch den Jungen schon häufig als Karzer gedient hatte. Sie war zu klein, um ein Bett oder auch nur eine Pritsche aufzunehmen. Es gab lediglich einen einfachen Holzschemel, ein Kruzifix und einen Eimer mit Deckel für die Notdurft. Trotzdem lächelte Aurelie. Ihr Vater hatte genau das getan, was sie erwartet hatte.
Am nächsten Morgen fand die Magd, die morgens als Erste die Kamine anzufachen hatte, die Tür der Kammer offen und das kleine Gefängnis leer. Von Aurelie fehlte jede Spur

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