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Annäherung an Aurelie

Manchmal schreibe ich eine Passage nur, um eine Figur näher kennenzulernen. Ich als Autorin möchte meine Figur ansehen, mich ihr annähern, sie betrachten, zu Wort kommen lassen. Eine solche Passage taucht im Buch selbst dann gar nicht oder nur in Auszügen auf.
Hier geht es um das spätere Mordopfer und einen kleinen Teil der Vorgeschichte zum zweiten Kapitel, wo wir Aurelie kurz kennenlernen, ehe sie leider umgebracht wird. 
Um als Prolog zu dienen, ist die Passage nicht spannend genug. Sie wird also vermutlich niemals im Buch vorkommen. Mir hilft es aber, Hintergründe zu schaffen.

Aurelie

Juni 1737

Aristide Baron d’Argentcourt hatte an der ruhmreichen Schlacht von Denain als Dragoneroffizier teilgenommen. Wollte man seinen Erzählungen glauben, war er an vorderster Front mit seinen Mannen schnurstracks ins Zentrum der niederländischen Armee vorgedrungen und wäre er nicht am Bein verwundet worden, wäre sicher er persönlich es gewesen, der ihren General Arnold van Keppel gefangen genommen hätte. Diese ruhmreichen Tage lagen zwar nun schon 25 Jahre zurück, aber das änderte ja nun gar nichts an den herrlichen Tatsachen. Sicher, aus dem ehemals schlanken Dragoneroffizier war mittlerweile ein ziemlich fülliger Hausvorstand geworden. Doch er sah auf Anstand und Ordnung in seinem Hause, jawohl! Seine Frau Melisande, 20 Jahre jünger als er selbst, war sein Sergeant, die die Truppen – Kinder und Dienerschaft – in seinem Sinne führte. Sie hatte ihm im Laufe der Jahre 9 lebende Kinder geschenkt. Die beiden ältesten Töchter – es waren beklagenswerterweise mehr Mädchen als Jungen – waren bereits vorteilhaft verheiratet und von den Jungen waren die drei Ältesten bereits zur militärischen Ausbildung in verschiedenen namhaften Regimentern untergebracht. Heute nun sollte der nächste Sieg errungen werden: Niemand Geringeres als ein Gardeleutnant hatte um die Hand von Aurelie, seiner drittältesten Tochter angehalten. Das hatte Melisande geschickt eingefädelt und in den letzten Wochen mit großer Beharrlichkeit und dennoch behutsam in die Wege geleitet. Sie war eine so geschickte Strategin! Der Gardeleutnant verfügte mit seinen 32 Jahren über die nötige Standfestigkeit im Leben und würde die sprunghafte Aurelie mit straffer Hand zu führen wissen.
Zufrieden und gewichtig schritt Aristide die Treppe seines Hauses hinunter und begab sich ins Speisezimmer, wo die Familie ihn bereits erwartete – ganz so, wie er es schon vor langer Zeit eingerichtet hatte: Melisande und die Kinder aufgereiht vor dem schweren, auf Hochglanz polierten Eichenbuffet, über dem zwei gekreuzte Dragonersäbel über dem Familienwappen die getäfelte Wand schmückten. Erst nach der Inspektion der Truppe, durften sich alle zu Tisch begeben und dann dem lauschen, was er zu sagen hatte.
Auch heute waren Melisande, Aurelie, Marie-Elise, Gaspard und Robert angetreten. Aurelie war mit ihren 17 Jahren die Älteste der noch im Haus verbliebenen Kinder, der entzückende Robert mit 12 Jahren der Jüngste. Der vierzehnjährige Gaspard würde das Haus noch in diesem Herbst verlassen – es schadete nur, wenn er noch länger dem verweichlichenden Einfluss seiner Mutter ausgesetzt blieb.
„Ihr dürft euch setzen. Marie-Elise, sprich das Tischgebet!“
Nachdem sie die cremige Maronensuppe schweigend genossen hatten und die Dienerschaft mit dem Vorlegen des Hauptgangs fertig war, nahm Aristide seine übliche Ansprachenhaltung an.
„Heute ist ein freudiger Tag!“, begann er, wobei seine Stimme immer die Kristallfacetten des Lüsters leicht klirren ließ. Die Gewohnheit, einen Exerzierplatz füllen zu müssen, legte sich eben nicht so leicht ab. Verdrehte Aurelie etwa die Augen? Unvorstellbar! Nein, er musste sich geirrt haben, denn jetzt starrte sie wieder züchtig, wie es sich gehörte, auf ihren Teller.
„Wir erwarten heute Nachmittag Besuch“, fuhr Aristide unbeirrbar fort. Einzig seine Frau strahlte erwartungsvoll in die Runde, während die Kinder allesamt artig lauschten.
„Der Leutnant der Stadtgarde, der ehrenwerte Chevalier Bruno Lagrange, wird um vier Uhr am Nachmittag seine Aufwartung machen. Aurelie!“ Mit aufwärtsmoduliertem Tonfall, der einen Rekruten die Hacken hätte zusammenschlagen lassen, wandte sich der Baron seiner Tochter zu. Die hob jedoch eher langsam den Kopf, wobei sie mit der Gabel ein Stückchen Kartoffel auf ihrem Teller herumschob.
„Ja Monsieur Papa?“, sagte sie, wobei sie den Mund nur genau so weit bewegte, wie unbedingt nötig.
„Du kannst dir vermutlich bereits denken, worum es geht. Also gib dir Mühe bei deiner Garderobe und zeige dich von deiner besten Seite! Das ist eine sehr gute Partie!“
„Ich wünsche nicht, den Chevalier Lagrange zu heiraten.“
Baron d’Argentcourt brauchte einen Moment, bis dieser Satz den Weg von seinen Ohren bis zu seiner Auffassungsgabe zurückgelegt hatte. Oder vielmehr konnte er einfach nicht glauben, dass er gehört hatte, was er gehört hatte. Das unterdrückte Keuchen seiner Frau und ein mehr fühl- als hörbares Einatmen der übrigen Kinder verriet ihm jedoch, dass Aurelie gerade tatsächlich ihren abschlägigen Wunsch kundgetan hatte. Er starrte sie dennoch einen weiteren Moment an, ehe er donnerte: „WIE war das gerade?“
„Ich wünsche nicht, den Chevalier Lagrange zu heiraten“, wiederholte Aurelie wie ein Echo ihre erste Aussage. Dabei sah sie ihrem Vater mit leicht vorgerecktem Kinn genau in die Augen. Die Gabel war nun fest in eine Kartoffel gespießt.
„Das ist nicht akzeptabel! Die Ehe wurde bereits arrangiert und versprochen. Es ist eine reine Artigkeit, dass der Chevalier uns nachher aufsucht, um dir persönlich seine Aufwartung zu machen. Du wirst dankbar sein und tun, was von dir erwartet wird!“ Baron d’Argentcourt hatte seine Fassung nun wiedergewonnen. Aurelie, natürlich, sie war letzthin etwas widerspenstig geworden. Umso wichtiger, dass sie endlich verheiratet wurde! Aber er war ja ein geduldiger Vater, nicht wahr und würde sie nun nicht einfach anschreien.
„Ich bitte Euch um Verzeihung, Monsieur le Papa, aber der Chevalier wird von mir ein Nein bekommen“. Aurelies Stimme blieb gedämpft, aber ihre Haltung war steif, mehr als gerade, ihr Kopf hoch erhoben, die Schultern gestrafft. Solch ein Trotz!
„Das wird er natürlich nicht! Das ist ganz und gar undenkbar! Du wirst seinen Antrag selbstverständlich annehmen!“ Ein letztes Mal wahrte Baron d’Argentcourt die Ruhe, legte aber alle Bestimmtheit eines Offiziers in seine Stimme.
„Wenn Ihr das sagt, Monsieur le Papa, werde ich Euch nicht weiter widersprechen. Ich sage Euch nur jetzt und hier, was ich nachher und dort antworten werde!“ Aurelie wankte nicht, aber die Kartoffel war unter ihrer Gabel inzwischen zu Püree geworden.
„Marie-Elise, Gaspard, Robert: Hinaus!“, befahl der Baron barsch. Aurelies Geschwister leisteten so schnell Folge, dass es schien, als wären sie nie da gewesen.
„Aurelie, aufstehen!“
Man schickte einen Boten zu Leutnant der Garde, Chevalier Bruno Lagrange. Aurelie sei leider kurzfristig erkrankt. Ein leichtes Herbstfieber, nichts Schlimmes, eher eine weibliche Unpässlichkeit, aber man bitte doch um Verständnis, den Termin um einige Tage zu verschieben. Natürlich ändere das NICHTS an den getroffenen Absprachen, selbstverständlich nicht!
Als Baron d’Argentcourt seine Geduld und seine Stimmbänder restlos aufgebraucht hatte, wurde Aurelie in einer kleinen Kammer im Dienstbotentrakt einesperrt.
„Dort bleibst du, bis zu wieder zu Verstand kommst“, tobte ihr Vater, als er sie höchst eigenhändig dort hinein verfrachtete.
„Ich bin ganz und gar bei Verstand!“, wagte Aurelie immer noch Widerstand zu leisten. Vermutlich hatte sie Glück, dass ihr Vater bereits die Tür ins Schloss warf, dass der Rahmen ächzte. Mit so viel Nachdruck, wie ein Stück Metall nur aufbringen konnte, wurde der Schlüssel im Schloss herumgedreht. Durch ein winziges Loch weit oben fiel ein kleines bisschen Licht in die Kammer, die auch den Jungen schon häufig als Karzer gedient hatte. Sie war zu klein, um ein Bett oder auch nur eine Pritsche aufzunehmen. Es gab lediglich einen einfachen Holzschemel, ein Kruzifix und einen Eimer mit Deckel für die Notdurft. Trotzdem lächelte Aurelie. Ihr Vater hatte genau das getan, was sie erwartet hatte.
Am nächsten Morgen fand die Magd, die morgens als Erste die Kamine anzufachen hatte, die Tür der Kammer offen und das kleine Gefängnis leer. Von Aurelie fehlte jede Spur

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