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Wettlauf im Dunkeln

Ulysses gegen 22.00 Uhr

Ulysses verließ Coumbas Haus mit einem noch unbehaglicheren Gefühl, als er es betreten hatte. Diese junge schwangere Frau hatte ihm ein Versprechen abgerungen, das er nicht geben wollte. Ganz sicher würde er nicht losgehen, um nach einem törichten und vermutlich toten jungen Mann zu suchen, zu dem seine einzige Verbindung war, dass sie dieselbe Hautfarbe hatten. Ja und? Würde sich irgendein Pariser genötigt sehen, einen anderen, ihm völlig unbekannten und weit unter seinem Stand stehenden anderen Pariser zu suchen, einzig weil sie beide weiß waren?
Aber Ulysses wusste, dass es so einfach nicht war, ganz gleich, wie lästig ihm das war. Es bestand eine Art Bund zwischen jenen wenigen entwurzelten, verschleppten, versklavten, verlorenen und in schwarze Haut gekleideten Seelen, die hier in Paris lebten. Jede hatte ihre eigene Geschichte und doch war sie immer mehr oder weniger gleich. Und keiner von ihnen war freiwillig hier!
Also ja, er war eben eine Verpflichtung eingegangen. Aber das konnte nicht bedeuten, dass er sich selbst die Hände schmutzig machte! Sein Herr hatte ihn um Informationen ausgeschickt. Informationen würde er ihm liefern. Zumal es sich um welche handelte, die ihn gewiss erfreuen würden. Ulysses beschleunigte seine Schritte, kehrte den engen Gassen des Viertels den Rücken zu und erreichte eine knappe halbe Stunde später das Haus, in dem der Lieutenant Géneràl von Paris residierte.

Ulysses‘ Annahme erwies sich als richtig: René Herault de Vaucresson verzog sein Gesicht zu einem äußerst zufriedenen Lächeln als er die Beschreibung des Mannes hörte, der den Mohren angeworben haben sollte.
„Ich fürchte, ich muss heute noch einmal ausgehen. Bei der Verhaftung von Lucien Malpart möchte ich doch wirklich gern selbst zugegen sein! Bring mir Papier, Feder und mein Siegel. Ich möchte zwei Dutzend Archers du guet in einer halben Stunde vor meinem Haus. Dann bringst du mir meinen Paraderock und lässt mein Pferd satteln. Wer hätte gedacht, dass ein solch trüber Tag noch so interessant enden könnte!“

Eustache kurz vor 23.00 Uhr

Eustache kam an einen größeren Kreuzungspunkt, bei dem sich einst irgendwer die Mühe gemacht hatten, die Decke mit gemauerten Bögen abzustützen. In der Mitte war ein Loch – ein verrottetes Holzgestell darüber verriet, dass es sich einst um einen Brunnen gehandelt haben musste. Eustache schauderte bei dem Gedanken, er hätte ihn im Dunkeln übersehen und wäre hineingefallen. Zwar fiel der Schein seiner Laterne auf eiserne Krampen in der gemauerten Wand, die eine Art Leiter nach unten zu bilden schienen – aber was nutzte einem das schon, wenn man mit gebrochenem Genick da unten lag? Eustache hob seine Laterne und leuchtete in alle Richtungen, suchte den Boden ab und lauschte, aber er konnte verflixt nochmal nicht entscheiden, welchen Gang d’Argencourt von hier aus genommen haben mochte. Er lauschte erneut und meinte, entfernt Laute zu hören. Aber aus welchem Gang kamen sie? Er strengte seine Ohren an. Da! War das eine Frauenstimme? War er Annette de Tourville vielleicht schon ganz nah? Es musste aus einem der beiden Gänge rechts von ihm gekommen sein. Aber aus welchem? Aus der verqueren Logik heraus, dass man die Geisel nicht am breitesten Gang zurückgelassen haben würde, wo jeder, der sich hier hinunter verirrte quasi über sie stolpern konnte, entschied Eustache sich für den schmaleren. Hm, waren da nicht sogar Spuren am Boden? Schleifspuren? Hatte man die eventuell bewusstlose Frau hier entlang gezerrt? Entschlossen ging Eustache vorwärts. Wenn d’Argencourt Annette de Tourville erreichte, blieb vermutlich nur noch wenig Zeit, denn zweifellos war der Baron gekommen, um die einzige Person, die noch Zeugnis von den Geschehnissen im Schreibzimmer von Madame du Foix abzulegen vermochte, umzubringen.
Ein halbes Dutzend Abzweigungen, Wegkehren und Richtungsänderungen später musste Eustache einsehen, dass er die falsche Entscheidung getroffen und sich vermutlich verirrt hatte. Als er umdrehte stellte er mit Bestürzung fest, dass er wohl nicht mehr an jeder Biegung eine Markierung gesetzt hatte. In seinem Eifer, der Schleifspur zu folgen und sich zu beeilen, musste er schlicht ein paar Stollen übersehen haben.
„Merde!“, schimpfte er leise aber inbrünstig. „Keine gute Idee, sich hier unten zu verlaufen!“ Und wie zur Bestätigung fiel das Licht seiner Laterne nach einer weiteren Krümmung des Ganges plötzlich auf ein Paar Augen, von denen fast nur das Weiße zu sehen war und die ihn aus einem absurd abgeknickten Kopf heraus anstarrten.
„Heilige Mutter Gottes!“, keuchte Eustache, prallte zurück und nahm die Laterne fort, als könnte die Dunkelheit einfach fortwischen, was da lag. Dann fing er sich, schluckte und hob die Laterne erneut an.
Es handelte sich jedenfalls nicht um Annette de Tourville! Es war ein Mann von schwarzer Hautfarbe und er lehnte an der Rückwand des in einer Sackgasse endenden Tunnels. Eustache hatte den Mohren gefunden, von dem so viel die Rede gewesen war. Er war einwandfrei tot. Die Beine waren ausgestreckt und nun erkannte Eustache, welchen Spuren er unbewusst gefolgt war. Jemand musste den toten Körper hierher geschleift haben. Ein recht großzügiges Mausoleum für einen vermutlich im Leben sehr armen jungen Mann. So grotesk wie der Kopf zur Seite gekippt war nahm Eustache an, dass man ihm das Genick gebrochen hatte. Er zwang sich, näher heranzutreten und sich das genauer anzusehen. Die Leiche war nicht frisch und die Totenstarre hatte sich längst wieder gelöst. Vermutlich war er noch am Abend des 10. Oktobers, an dem Aurelie getötet und Annette de Tourville entführt worden war, umgebracht worden. Die genauen Abläufe konnte Eustache nur erraten und er hielt sich nicht mit diesen Spekulationen auf. Stattdessen sprach er ein kurzes Gebet für den Toten, dann drehte er um. Es war höchste Zeit, den Baron wiederzufinden!
Eustache war gedanklich immer noch mit dem toten Mohren beschäftigt und welche Konsequenzen sich vielleicht aus diesem Fund ergaben, als er zufällig wieder auf den Gang stieß, der zu dem Gewölbe mit dem Brunnen führte. In der Annahme, dass d’Argencourt ihm weit voraus war und er sich allein in diesem Abschnitt der Stollen befand, achtete Eustache nicht auf das, was vor ihm lag. Er hastete einfach auf den Ort zu, von dem aus er hoffte, wieder auf den richtigen Weg zu stoßen – und wurde von dem, der ihn dort erwartete, hoffnungslos überrumpelt. Der hatte seine Laterne sorgsam abgedeckt und wartete verborgen im Dunkel auf sein Opfer.
Man konnte es Instinkt nennen oder vielleicht roch Eustache einfach die Laterne des anderen – aber im letzten Moment wurde er gewahr, dass er erwartet wurde, verhielt seinen Schritt, drehte sich leicht zur Seite – und das rettete ihm vielleicht das Leben. Zumindest für den ersten Moment. Der schwere Stein, der seinen Schädel hätte zertrümmern sollen, erwischte nur seinen Arm, der sofort taub wurde. Die Laterne fiel ihm aus der Hand, erlosch allerdings nicht. So konnte Eustache sehen, wer ihn angriff, auch wenn er den Mann nur einige wenige Male in seinem Leben gesehen hatte.
„Malpart!“, keuchte er. Aber ihm blieb keine Zeit, diese Erkenntnis zu verarbeiten, denn der Inspecteur drang bereits wieder auf ihn ein, diesmal mit einem gezückten Dolch. Eustache wirbelte zur Seite, rammte den Ellbogen des gesunden Arms gegen Malparts Messerhand und fühlte, wie der scharfe Stahl ihm den Ärmel aufriss.
„Ich weiß nicht wer du bist, aber das ist auch nicht wichtig, da du so gut wie tot bist!“, knurrte Malpart. Er unterlief Eustaches Arm, sodass der nun mit dem Rücken zum Gewölbe stand, drehte sich und stach erneut mit dem Dolch nach ihm. Da es ein recht ungeschickter Stoß war nahm Eustache an, dass er ihn mit dem Ellbogen ziemlich erwischt haben musste. Er machte einen halben Schritt rückwärts, um nach dem Inspecteur zu treten, konnte den Tritt aber nicht gut platzieren und trat ins Leere. Malpart hob eine Handvoll Dreck auf und schleuderte sie nach Eustaches Augen, doch der konnte schnell genug den Kopf wegdrehen. Damit verlor er dennoch für einen Moment Malpart aus den Augen, verpasste dessen nächste Bewegung und kassierte einen harten Stoß in die Seite. Eustache wankte und rang nach seinem Gleichgewicht, stieß an etwas Hartes und hielt sich blindlings daran fest. Er zog sich einen Splitter in die Hand. Holz! Die Brunnenwinde! Er war… Eustache kam nicht mehr dazu, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Malpart stach mit dem Dolch nach Eustaches Hand, und der zog sie instinktiv weg, was ihm die Stütze nahm. Darauf hatte Malpart gewartet. Er platzierte einen harten Tritt auf Eustaches Hüftte – und Eustache taumelte. Sein Herz setzte aus, als sein nächster Schritt ins Leere ging. Er griff noch nach den Überresten der Brunnenwinde, doch was er zu packen bekam, bröckelte unter seinen Fingern. Einen winzigen Moment glaubte er noch, sich doch noch nach vorn werfen und retten zu können, aber sein Standbein rutschte auf kleinen, losen Steinchen aus – und mit einem entsetzen Angstschrei stürzte er in den Brunnenschacht! Dann brach sein Schrei ab und außer den losen Steinchen, die ihm wie höhnisch kichernd hinterherrieselten war nichts mehr zu hören.
Malpart zog keuchend seine Halsbinde zurecht. Einen Moment lauschte er. Kein Laut. Die Schächte in den Carriérs waren tief und da er kein Platschen gehört hatte, lag der Brunnen offensichtlich trocken und der Kerl, wer auch immer das gewesen sein mochte, hatte sich den Hals gebrochen. Gut! Tot und nicht einmal begraben musste man ihn, wie praktisch! Aber es hatte ihn erneut Zeit gekostet. Er musste jetzt endlich an sein Ziel kommen und dafür sorgen, dass d’Argencourt das Richtige tat und nicht wieder nur herumtändelte. Er hätte ihm gleich nicht nachgeben sollen mit dieser ganzen Entführung der Sappho! Nun, selbst ein Malpart machte mal Fehler. Aber jetzt war es an der Zeit, das zu berichtigen. Von diesem Gewölbe aus war es nicht mehr sehr weit.
„Bringen wir es zu Ende!“, sagte er zu sich selbst.

Annette, ohne Zeitangabe

Da waren Geräusche! Sie mussten schon länger da sein, aber es dauerte seine Zeit, bis die Informationen ihrer Ohren eine Reaktion in Annette auslösten.
Sie dämmerte schon so lange nur noch vor sich hin, dass ihr Körper vergessen hatte, wie er auf Außenreize, die so lange komplett gefehlt hatten, reagieren sollte. Erst hatte der aufwühlende Hunger sie noch wachgehalten. Aber irgendwann war er abgeebbt und hatte nur ein schmerzhaftes Gefühl der Leere hinterlassen. Ab und an zogen sich ihre Eingeweide schmerzhaft zusammen, aber entgegen ihrer Erwartung war sie noch nicht verhungert. Geschichten über jahrelang fastende Märtyrer waren ihr in den Sinn gekommen. Sie hatte verächtlich die Lippen gekräuselt, unsichtbar für die Welt aber fühlbar für sie selbst. Sie würde ganz sicher niemand zur Märtyrerin erklären. Es würde sie ja niemand überhaupt auch nur finden!
Die Hoffnung auf die Rückkehr des Mädchens war auch verschwunden. Hier unten gab es keine Zeit, aber Annette hatte sehr deutlich das Gefühl, dass zu viel Zeit vergangen war, als dass sie noch daran glauben konnte, dass das Mädchen tat, worum sie sie gebeten hatte. Eine Weile hatte Annette sie verflucht, geheult, geschimpft, geschrien, bis die Kraft sie verließ und sie nur noch kauernd geschluchzt hatte. Dann war auch diese Regung vergangen. Seitdem lehnte sie an der feuchten Wand, von der sie schon seit einer ganzen Weile auch kein Wasser mehr leckte, weil es sie würgte, sobald es ihren leeren Magen traf. Sei tat gar nichts mehr. Ihr Kopf fühlte sich dick und schwer an. Gedanken krochen behäbig wie Nacktschnecken, dann wieder huschten sie schnell wie Eidechsen durch ihr Hirn. Sie vermochte nicht mehr zu unterscheiden, was Erinnerungen und was Hirngespinste waren. In einem wacheren Moment fragte sie sich, ob sie überhaupt noch lebte oder längst gestorben war. Wenn das hier die Ewigkeit war, dann hatten die Kirchenmänner noch mehr gelogen als sie immer geargwöhnt hatte! Ihr Verdacht, dass die auch keine Ahnung hatten, bestätigte sich jetzt. Aber was war auch von Männern schon zu erwarten gewesen?
Aber jetzt hob Annette den Kopf, so anstrengend das auch war. Sie hatte etwas gehört und es entsprang nicht ihren verwirrten Sinnen! Sie lauschte. Schritte! Da waren einwandfrei Schritte im Tunnel. Es kam jemand. Annette brachte eine Art Krächzen zustande und sie wusste nicht, ob es ein Rufen oder ein Lachen oder ein Schluchzen sein sollte. Da kam ein Mensch! Mit spöttischem Erstaunen registrierte ein zweites Ich von Annette, dass sie doch noch Lebensgeister in sich hatte, die überraschend resolut auf ihre Daseinsberechtigung pochten.

 

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