Catherine und Hugo gegen 23.00 Uhr
Der Nebengang erwies sich zum Glück als nicht so schmal wie der letzte. Er bog einige Male ab, aber verengte sich nie auf mehr als auf anderthalb Ellen und blieb immer hoch genug, dass Catherine fast immer aufrecht gehen konnte – Hugo musste einige Male den Kopf einziehen. Dann hielt Puce unvermittelt an und zeigte nach vorn, obwohl kaum etwas zu erkennen war.
„Da, wo es sich gabelt, müsst Ihr nach links gehen. Dann kommt Ihr dahin, wo die Madame ist. Ich warte hier, und dann gebt ihr mir meine Belohnung!“ Den letzten Halbsatz sprach sie mit trotzigem Nachdruck aus.
Catherine sah sie nachdenklich an. Wenn das Mädchen sie hier unten im Stich ließ, würden sie vermutlich nie wieder hinausfinden. Andererseits hatte sie sie bis hierher gebracht, ohne mehr als ein Abendessen dafür bekommen zu haben. Sie würde also vermutlich tatsächlich hier warten.
„Ja, du bekommst deine Belohnung und ich verdoppele sie sogar noch, wenn wir Madame lebend finden!“, versprach Hugo in jenem geschäftsmäßigen Ton, den er bei seinen besten Kunden anzuschlagen pflegte. Das schien Puce zu beruhigen. Sie lächelte sogar ein bisschen, soweit man das bei dem diffusen Laternenschein erkennen konnte.
„Ich warte hier!“, wiederholte sie.
„Dann los!“, sagte Catherine, die wieder die Ungeduld gepackt hatte. Sie waren jetzt so nah dran!
„Ja, aber vorsichtig! Wir wissen nicht, was uns erwartet“, mahnte Hugo, aber Catherine hörte nicht auf ihn. Sie nahm ihm einfach die Laterne aus der Hand und ging so rasch es die Gegebenheiten erlaubten voran. Hugo blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, wollte er sie nicht verlieren. Aber war das nicht schon immer so, dachte er ironisch. Über ihren Streit hatten sie nicht mehr geredet und angesichts der aktuellen Situation war der Grund dafür auch zu einer reinen Nebensache verkommen. Jetzt galt es tatsächlich nur, endlich Annette zu finden – und hoffentlich lebend zurück an die Oberfläche zu bringen!
Catherine nahm, wie von Puce vorgegeben, an der Gabelung den linken Gang – unnötig zu sagen, dass es der engere und niedrigere war. Das Reitkleid würde sie wegwerfen können anschließend, aber das war es wert, wenn sie ihre Freundin nur lebend vorfand! Gerade wollte sie schon Annettes Namen rufen – da erstarrte sie. Hugo rannte fast in sie hinein und sie würgte seinen Protest jäh ab, indem sie den Finger an die Lippen führte.
„Schscht! Da spricht jemand. Und es ist nicht Annette!“, wisperte sie und hoffte, dass die Tunnelwände ihre Stimme nicht ebenso weitertragen würden wie es umgekehrt der Fall war. Angespannt lauschten beide. Wer auch immer bei Annette war, er war ganz gewiss nicht dort, um sie zu befreien. Hugo und Catherine verständigten sich lautlos, dann zog Hugo langsam seine Pistolen aus dem Gürtel, vergewisserte sich, dass sie schussbereit waren und nickte Catherine zu. Die hatte ihr größeres Messer in der Hand – ein zweites trug sie an einem eigens dafür gefertigten Futteral an der Wade – ein Kniff, den ihr ausgerechnet Annette gezeigt hatte. „Gegen zudringliche Kerle aller Art“, hatte sie damals gesagt. Sie würden ja gleich sehen, welcher Art der Kerl war, der jetzt bei Annette war. Sie nickte zurück zu Hugo und so leise sie konnten schlichten sie die letzten Meter voran. Ihre Laterne ließen sie stehen, sobald sie selbst auch nur die Ahnung vom Schein der Laterne vor ihnen erhaschen konnten. Besser, ihr Gegner sah sie nicht kommen.
Annette
Schon der schwache Vorbote des Laternenscheins blendete ihre Augen, und als die Laterne dann tatsächlich in ihre kleine Kaverne getragen wurde, stach das Licht sie wie tausend brennende Nadeln. Annette musste die Augen zukneifen und den Kopf wegdrehen.
„Ah, du lebst ja noch, du widernatürliches Miststück!“, hörte sie eine Stimme, die angewidert und erfreut zugleich klang. Annette traute ihren Sinnen gerade nicht, glaubte aber nicht, diese Stimme schon einmal gehört zu haben. „Das ist gut. Malpart wollte nicht, dass ich dich immer mal besuche, aber glaube mir: Es geschah nicht, weil ich dich vergessen hätte! Wer meine Tochter verdirbt und besudelt, den vergesse ich nicht! Dem vergebe ich auch nicht. Und jetzt haben wir beide noch ein Geschäft zu erledigen, ehe du stirbst. Bah, du siehst inzwischen äußerlich so widerlich aus, wie es deine verderbte Seele schon immer war. Jetzt könntest du niemanden mehr mit deinem Salon-Getue blenden!“
Annette wagte es, ein halbes Auge zu öffnen. Das Licht tat ihr immer noch weh, aber sie konnte jetzt ein wenig sehen: Umrisse im Gegenlicht des Laternenscheins und Reitstiefel unterhalb davon. Sie waren mit Schlamm bespritzt und dann von einer mehligen Schicht überzogen, aber dennoch waren es gute Stiefel, wie Annette sogar in ihrem gegenwärtigen Zustand erkannte. Sie riskierte es, die Augen etwas mehr zu öffnen und den Kopf wieder nach vorn zu drehen. Es tat weh, aber allmählich nahmen ihre Augen die Arbeit wieder auf.
„Du siehst aus, als hätte ein Dämon dich verschlungen und dann wieder ausgespuckt. Du riechst auch so. Mon Dieu, du würdest dich vor dir selbst ekeln, könntest du dich sehen! Aber leider konnte ich dir keinen Spiegel mitbringen, wie du sicher verstehst. Und jetzt steh auf!“
Annette hätte ihm nicht einmal dann gehorcht, wäre sie noch dazu in der Lage gewesen. Immerhin brachte sie einen einigermaßen vernichtenden Blick zuwege – glaubte sie wenigstens. Dann traf sie ein Tritt, gar nicht einmal so brutal, wie sie hätte erwarten können. In ihrem gegenwärtigen Zustand reichte es aber, die zusammenzukrümmen und ihr ein schmerzhaftes Keuchen zu entlocken.
„Ungehorsam! Ich dulde keinen Ungehorsam! Das wusste auch Aurelie. Und dennoch hat sie sich mir widersetzt! Mädchen! Weiber! Seit Eva seid ihr allesamt verderbt bis ins Mark. Ein Jammer, dass du Aurelie getroffen hast, als du mit deinem hinterhältigen Messer auf Lagrange losgegangen bist! Ich hätte Aurelie noch sehr gern Manieren in den Leib geprügelt. Aber vielleicht ist es besser so, denn was hätte ich hernach mit dem besudelten Mädchen anfangen sollen? Eine Lesbierin kann man ja nicht einmal in ein Kloster stecken! Schließlich findet sie dort beständig Nahrung für ihre unnatürliche Lüsternheit! Die DU geweckt hast!“ Bei dem Wort ‚Du‘ trat der Mann erneut zu. Aber erneut war es eher wie man nach einem Hund tritt, der im Weg liegt. Es tat weh, aber es zerriss Annette nicht. Dumpf dämmerte ihr, dass es sich bei ihrem Peiniger um Aurelies Vater handeln musste. Kein Wunder, dass Aurelie fortgelaufen war! Sie hätte vielleicht doch mehr Geduld mit dem Mädchen haben sollen.
„Ich könnte dich jetzt einfach schnell umbringen und du hättest es hinter dir. Dafür musst du allerdings etwas für mich tun. Oder ich trete dich langsam zu Tode, wie eine läufige Bastardhündin es verdient, die eine gute Zucht verdirbt. Aber du kannst den einfachen Weg wählen, indem du mir hier was unterschreibst. Das wirst du wohl noch hinkriegen, hm?“
Baron d’Argencourt kam jetzt dicht an sie heran, fasste nach ihrem Kinn und zwang Annette, ihn anzusehen. Dann griff er mit der anderen Hand in den modischen Aufschlag seines Justaucorp und förderte ein Papier zutage. Er entrollte es und hielt es Annette vor die Augen. Sie starrte leer darauf und hätte es wohl auch nicht entziffern können, wenn sie in besserer Verfassung gewesen wäre, da d’Argencourt das Laternenlicht mit seinem Körper abschirmte. Das schien ihm einen Moment später auch klar zu werden. Er ließ Annette los, holte die Laterne näher und versuchte es erneut. Dieses Mal holte er auch ein winziges Tintenfläschchen und eine Feder hervor. Dann fiel sein Blick auf Annettes kraftlose Hände. Er schnalzte ungeduldig mit der Zunge, legte die Schreibutensilien noch einmal weg und griff stattdessen unter sein Justaucorp in seine Weste. Er holte eine flache Taschenflasche hervor, entkorkte sie und stopfte Annette die schmale Öffnung in den Mund.
„Du bist natürlich ein bisschen geschwächt. Hier, trink das! Es wird deine Lebensgeister genau so lange wecken, wie wir hier brauchen!“
Es war Cognac. Sehr guter Cognac und er rann durch Annettes Kehle wie flüssiges Feuer. Sie hustete natürlich, aber sie schluckte auch einiges herunter, wider Willen gierig auf den Alkohol und die Flüssigkeit. Ihr ausgehungerter Körper entschied das einfach und nicht einmal ihr Magen rebellierte.
„Siehst du, so geht das unter zivilisierten Leuten. Wir besiegeln ein Geschäft mit einem guten Cognac, wie es Brauch ist. So, und jetzt unterschreib das!“
D’Argencourt zerrte Annette ein Stückchen aus ihrer Ecke heraus, soweit es die Handketten zuließen. Dann rückte er die Laterne an einen günstigen Platz und legte Annette erneut das Schriftstück vor. Er öffnete das Tintenfläschchen, tunkte die Feder hinein und drückte sie dann Annette in die Finger. „Los jetzt, unterschreib das hier!“
Die starrte auf das Papier und versuchte erneut, das Geschriebene zu entziffern. Der Cognac hatte sie tatsächlich belebt, ihre vielfältigen Schmerzen gedämpft und eine Art Wolke um dieses ganze grässliche Geschehen gelegt: watteweich, irgendwie warm und leicht golden, wie der Cognac selbst. Fast hätte Annette gekichert. Mit so wenig Alkohol war sie vermutlich noch nie so beschwipst gewesen.
„Unterschreib schon!“, verlangte d’Argencourt ungeduldig.
„Unterschreibe nie was, ohne lesen“, nuschelte Annette undeutlich. „Nie!“ Allmählich ergaben die Buchstaben einen Sinn für sie. Sie sah zum Baron hoch. Dann brachte sie tatsächlich eine Art ungläubiges Lachen zustande. Der Mann musste verrückt sein.
„Nein!“, sagte sie so klar wie möglich und ließ die Feder fallen. „Fahr zur Hölle!“
D’Argencourt griff mit einem Zornschnauben nach der Feder und packte mit der anderen Hand nach Annettes Hals.
„Da irrst du dich! Die Einzige die zur Hölle fährt, bist du! Du hast nur noch die Wahl, ob es schnell und schmerzlos geht oder mit allen Qualen, die ich dir noch bereiten kann!“, fauchte der Baron und Speicheltropfen flogen in Annettes Gesicht, so dass sie sich angewidert abwenden musste. Dabei erhaschte sie einen Blick auf etwas hinter d’Argencourt. Ein Trugbild, ohne Zweifel – wie schade!
„Ihr seid derjenige, der sich irrt, Baron d’Argencourt! Lasst augenblicklich Eure Finger von Madame de Tourville!“, ertönte da eine neue Stimme. Doch kein Trugbild? Konnte das wirklich…?
„Catherine!“, seufzte Annette. Wäre das der Roman von Madame d’Elyssee gewesen, hätte sie nun in einer dramatischen Ohnmacht versinken und von einem eleganten Chevalier aufgefangen werden müssen. Wie schade, dass sie bereits am Boden lag. Aber, der Chevalier war immerhin zur Stelle!
„Ich ziele mit zwei Pistolen auf Euch, Baron und es wird mir kaum möglich sein, Euch auf diese Distanz zu verfehlen!“, rief im selben Moment nämlich Hugo. Ach, der ritterliche Hugo. Catherine hatte wirklich das große Los mit diesem Mann gezogen. Abgesehen davon, dass er ein Mann war, natürlich.
D’Argencourt teilte Annettes Enthusiasmus über diese Störung indes nicht. Statt herumzuwirbeln und dann in Anbetracht seiner Aussichtslosigkeit zu erstarren und aufzugeben, wie es sich gehört hätte, packte er Annette und zerrte sie so weit vor sich, wie es ihre Ketten zuließen.
„Dann schießt doch, du Foix!“, rief er höhnisch.