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Wer noch kommt

Jean-Marc gegen 22.30 Uhr

Jean-Marc rannte durch die nasse Dunkelheit. Er wünschte sich wirklich nicht oft ein Pferd herbei, auch wenn er Dank Catherines Bruder Philippe inzwischen einigermaßen reiten gelernt hatte. Aber er vertraute sein Leben dennoch viel lieber seinen eigenen Füßen als den Hufen eines Tieres an, das unter einer sehr dünnen Schicht der Domestikation und Erziehung 10 Quintal puren Fluchtinstinkt verbarg. Aber jetzt ausnahmsweise hätte er sich gern der Schnelligkeit einer solchen Kreatur bedient und nebenbei trockenere Füße behalten. Aber sei es drum: Er hatte kein Pferd zur Verfügung und eine Droschke gab es um diese Zeit und in dieser Gegend auch nicht. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Montrouge zu laufen und zwar so schnell wie möglich!
Er kannte die Gegend um Montrouge recht gut und wusste ziemlich genau, wo sich mindestens zwei der Eingänge befanden. Es gab Dutzende, wenn nicht Hunderte, die meisten nicht größer als erweiterte Rattenlöcher. Aber in Montrouge befand sich ein richtiger Eingang, durch den bis vor kurzem noch abgebaute Steine abtransportiert worden waren. Aber die Tunnel hatten Paris gar zu sehr unterhöhlt und die Stadtverwaltung hatte verboten, die Gänge weiter auszuschlachten. Es hatte immer mal Bemühungen gegeben, die enormen Hohlräume unter der Stadt zu verfüllen, denn gelegentlich sackten Teile von Straßen ab oder stürzten sogar Häuser ein, weil der unterhöhlte Untergrund nachgab. Aber es war immer bei halbherzigen Maßnahmen geblieben und vermutlich kannte niemand das gesamt Gängesysthem. Aber Jean-Marc konnte sich nicht vorstellen, dass jemand mit der Last einer bewusstlosen Frau auf dem Rücken allzu weit in die Stollen vordrang. Er konnte auch kein enges, geheimes Einstiegloch dafür benutzt haben. Nein, Jean-Marc war sich ziemlich sicher, dass d’Argencourt, Malpart und der von ihnen als Lastenträger beauftragte Mohr einen der großen Eingänge benutzt hatten. Wenn Malpart jetzt auf dem Weg nach Montrouge war, glaubte Jean-Marc zu wissen, welchen. Und er hoffte inständig, dass er sich weder irrte noch zu spät kam! Flüchtig dachte er an Catherine. Gottlob saß die sicher zuhause und ahnte nichts, denn sonst hätte sie ganz gewiss darauf bestanden, ihn zu begleiten. Er wusste immer noch nicht so recht, wie er mit ihrem Streit und der Gewissheit, dass Constance wirklich seine Tochter war, umgehen sollte. Sie mussten zu irgendeiner Verständigung zu dem Thema kommen – und er wollte Catherine als Geliebte nicht verlieren! Er wusste, dass er unendlich dumm war, was diese Sache anbelangte. Er würde niemals mehr als ein Gelegenheitsliebhaber für sein. Sie rief, er kam. Sie schickte ihn weg, er ging. Im Grunde eine unerträgliche und vollkommen törichte Situation. Und dennoch konnte und wollte er nicht davon lassen!
Wie ein verhungernder Unhold reckte sich der Umriss der Berghaspel in den dunklen Himmel. Gerade hatte es der fast volle Mond geschafft, durch ein flüchtiges Loch in der Wolkendecke zu blinzeln. Nur einen Augenblick beleuchtete er die Szenerie, aber es reichte Jean-Marc, um sich einen Überblick über Montrouge zu verschaffen. Gleich musste er abbiegen und dann lag der Einstieg auch schon direkt vor ihm. Bis er dort war, war das Mondlicht längst wieder von den Regenwolken verdeckt, wie eine Hand, die sich rasch vor eine Laterne schiebt, um ein Verbrechen zu verhüllen. Wie passend!
Auch Jean-Marc fand den Gitterschrank mit den Laternen und registrierte, dass drei Haken leer waren. Malpart, so viel war klar. Aber wer war zu dieser Stunde noch in den Carriérs unterwegs? Ein heißer Stoß fuhr Jean-Marc in den Magen. Wenn der Baron nach Lagranges Besuch sich auch veranlasst gesehen hatte, zu Annettes Versteck zu gehen, dann hatte Eustache sich sicher an seine Fersen geheftet! Waren es diese beiden, die die Laternen genommen hatten? Eustaches Unterstützung mochte sehr nützlich sein! Aber es waren dann auch zwei Gegner, und um der Wahrheit die Ehre zu geben war Eustache Petit kein großer Kämpfer. Hoffentlich war er nicht bereits in Schwierigkeiten! Jean-Marc verlor Zeit, weil der Docht der Laterne nichts von seiner Hast hielt. Endlich brannte sie. Ungeachtet der Gefahr, die von der schmalen, unebenen Wendeltreppe ausging, rannte Jean-Marc sie beinah hinunter. Unten entdeckte er fast auf Anhieb Eustaches Zeichen. Er war also hier und er hatte ihm den Weg markiert. Solche Dinge waren Eustaches Stärke! Hoffentlich war ihm das klar und er versuchte erst gar nicht, d’Argencourt oder Malpart zu überwältigen! Hoffentlich blieb ihm überhaupt eine Wahl! Jean-Marc hastete weiter. Wenige Minuten zu spät zu kommen, um Annette de Tourvilles Leben zu retten wäre schlimm genug. Aber auch noch Eustache Petit zu verlieren – erst in diesem Moment wurde Jean-Marc klar, wie sehr er den dürren, etwas schüchternen Kollegen inzwischen schätzte. Es würde ohnehin schon schwer werden, die Ereignisse dieses Abends in einen Bericht zu schreiben, der Herault de Vaucressons Blick standhalten konnte. Jean-Marc musste sich selbst eingestehen, dass er zu viele Fehler gemacht hatte. Verdammt, verdammt, verdammt!
Er bremste seine schnellen Schritte ab, als er Geräusche vor sich in der Dunkelheit hörte. Moment, nein, da war auch ein schwaches, flackerndes Licht. Vorsichtig ging er weiter und erreichte eine Art Höhle, die mit steinernen Bögen abgestützt war. In der Mitte befand sich ein Loch, das nach einem Brunnen aussah. Ein paar Meter entfernt lag eine Laterne, die gerade so eben nicht erloschen war, aber drohte, im Talg zu ersaufen. Jean-Marc richtete sie schnell auf – hier unten war eine Laterne fast so wichtig wie Luft zum Atmen. Atmen – etwas in dem Brunnenloch schien zu atmen! Für einen Moment stellten sich Jean-Marc die Nackenhaare auf. Wer wusste schon, welche Teufel hier in der ewigen Finsternis hausen mochten? Jean-Marc tastete nach seiner Pistole. Im Brunnen keuchte und stöhnte es. Dann war ein gedämpftes „sacrebleu!“ zu hören. Mit einem Satz war Jean-Marc am Brunnen.
„Eustache!“, rief er und hielt die Laterne über den Rand. Und tatsächlich klammerte sich sein Kollege an einige höchst dürftige Steigeisen und blinzelte unter einer blutverschmierten Stirn nun zu ihm hinauf.
„Jean-Marc! Es wäre großartig, wenn du mir behilflich sein könntest. Ich fürchte, ich tauge nicht sehr gut für derlei Abenteuer und es ist eine große Erleichterung, diese desolaten Steigeisen wenigstens sehen zu können.
Jean-Marc konnte nicht anders: er musste lachen. Derartig gewählte Worte in solch einer misslichen Situation, das konnte nur Eustache. Wirklich helfen konnte Jean-Marc ihm nicht, obwohl es seinem Kollegen sichtbare Mühe bereitete, die schmalen, rostigen Eisenkrampen hinaufzuklettern. Wie er einen Sturz dort hinunter überhaupt überlebt hatte, grenzte schon an ein Wunder – unbeschadet war er ganz sicher nicht dabei geblieben. Es schien Jean-Marc, als belaste er einen seiner Füße nicht. Vielmehr zog er sich hauptsächlich an den Händen hinauf und stützte immer nur mit dem linken Fuß nach. Erst als Eustache den Rand erreicht hatte, konnte Jean-Marc ihm im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme greifen und ihn erst hinaus und dann zur Seite ziehen. Keuchend blieb Eustache liegen. Er sah erschöpft aus, ein Teil seines blonden Schopfes war nass von Blut, er war unglaublich schmutzig und stank wie drei Kloaken auf einmal.
„Malpart! Du musst ihn verfolgen. Er will alle umbringen, die Bescheid wissen. Aber vielleicht ist es schon zu spät. Ich war ein paar Minuten bewusstlos, glaube ich“, sagte er dann und klang jetzt sehr erschöpft.
„Malpart? Er hat dich da runtergeworfen?“, riet Jean-Marc. Sein Kollege warf ihm einen Blick unter tiefhängenden Lidern hervor zu, antwortete dann aber nur indirekt: „Irgendwas da unten ist weich und hat dafür gesorgt, dass ich mir nicht das Genick gebrochen habe. Ich bin dankbar dafür, möchte aber dennoch nicht so genau wissen, aus was es bestand. Ich fürchte, ich werde noch tagelang stinken. Du musst dich beeilen. Ich glaube, es ist der Gang dort.“ Eustache wies auf einen und Jean-Marc nahm es so hin, obwohl Eustache aus seinem Loch heraus wohl kaum gesehen haben konnte, welchen Malpart genommen haben mochte.
„Bist du soweit in Ordnung?“
„Um hier zu warten, ja. Um mitzukommen, nein. Mir ist…“ Eustache unterbrach sich, wälzte sich auf die Seite, würgte und erbrach sich dann. Jean-Marc konnte nichts für ihn tun, hatte nicht einmal Wasser dabei. Er holte seinem Freund noch die Laterne näher, dann machte er sich ohne weitere Verzögerungen auf den Weg in die angewiesene Richtung. Die Chance, Malpart noch abzufangen, ehe der tat, was er zu tun vorhatte, tendierte inzwischen gegen Null. Aber aufgeben galt nicht. Jean-Marc tauchte erneut in die Carriérs ein und hoffte inständig, dass er den richtigen Weg gewählt hatte. Ein Schuss und gleich darauf ein hoher Schrei gaben ihm kurz darauf Hinweise, dass er nicht völlig falsch sein konnte. Aber auch darauf, dass er vermutlich zu spät kam. Wäre alles anders gelaufen, wäre Michel dabei gewesen? Michel, der Planer, der Besonnene, der mit dem Überblick und dem Organisationstalent? Nun, Jean-Marc würde weiter improvisieren müssen und zusehen, wie weit er damit kam. Er zog seine Pistole, bog um eine Ecke und fiel über ein steckendürres ausgestrecktes Bein.

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