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Im Appendix

Hugo zauderte, natürlich!
„Nun schieß schon!“, zischte Catherine ihm von hinten zu.
„Ich könnte Annette treffen“, wehrte Hugo ab.
„Kein Mumm, du Foix, eh?“, höhnte d’Argencourt geringschätzig und zog fast gemütlich seine eigene Waffe. „Nie im Krieg gewesen! Solche wie Euch habe ich mit der Peitsche aufs Schlachtfeld ge….“, ätzte der Baron weiter und legte an. Catherine drängte sich mit gebleckten Zähnen entnervt neben Hugo, riss ihm die eine Pistole aus der Hand und schoss den Baron in den Teil seines gemästeten Wanstes, der ausladend hinter Annettes ausgemergelten Körper hervor sah. D’Argencourt stieß ein infernalisches, quiekendes Kreischen aus, das dem eines angestochenen Schweins verblüffend ähnlich war und ging halb über Annette zu Boden. Hugo blickte seine Frau vollkommen entgeistert an, als die ihm die abgeschossene Pistole zurück in die Hand drückte.
„Machen, nicht reden!“, beschied sie ihm, beachtete ihn dann nicht weiter, sondern stürzte zu Annette. Dabei trat sie mit dem Fuß D’Argencourts die Pistole aus der Hand und zerrte ihn dann von Annette herunter, ungeachtet seines andauernden Geschreis.
„Annette, Annette! Oh meine Liebe, du lebst!“, rief sie und alle Stärke, die sie bis eben noch bewiesen hatte, bröckelte wie eine Sandburg bei Flut. Schluchzend fiel sie auf die Knie, um die Freundin zu umfassen.
„Gerade noch so“, murmelte Annette schwach.
Hugo erwachte aus seiner Starre, löste seinen Gürtel und fesselte dem Baron die blutigen Hände auf den Rücken, die der in einem ohnehin vergeblichen Versuch auf seine Bauchwunde zu drücken versuchte.
„Hör auf zu schreien, Mann!“, fuhr er ihn an.
„Hugo! Die Flasche mit dem Tee!“, rief Catherine ihm zu. „Annette braucht Wasser und Nahrung!“ Ihr Mann gehorchte, sobald er die Hände frei hatte und holte aus der Tasche, die er die ganze Zeit mitgeschleppt hatte, die Metallflasche mit dem gesüßten Tee hervor.
Annette konnte nur in sehr kleinen Schlucken trinken und fast hätte sie alles wieder hervorgewürgt. Sie atmete schwer aber sie lächelte Catherine an.
„Welcher Tag ist heute?“, fragte sie dann. Ihre Augen lagen aschgrau in tiefen Höhlen, ihre Lippen waren aufgesprungen. Ein violett-gelblicher Bluterguss zog sich über die komplette linke Gesichtshälfte.
„Es ist Sonntag, fast Montag. Vielleicht ist auch schon Montag. Jedenfalls irgendwann um Mitternacht, schätze ich.“ Catherine sprach erstickt, weil sie immer noch weinen musste nach all der Anspannung und Angst.
„Dreieinhalb Tage“, murmelte Annette. „Nur dreieinhalb Tage. Ich verstehe jetzt, wie das mit dem Fegefeuer funktioniert, denke ich.“ Sie ließ sich von Catherine einen weiteren Schluck Tee einflößen. „Guter Schuss, Catherine. Eine Frau aus der Normandie sollte man wohl nie unterschätzen.“ Catherine lachte, was es ihr erleichterte, endlich mit dem flennen aufzuhören.
„Mein Vater wollte, dass ich am Unterricht meiner Brüder teilnehme. ‚Eine Frau muss sich verteidigen können‘, fand er. Und obwohl meine Mutter sonst immer sehr auf damenhafte Manieren sah, hat sie ihm nicht widersprochen. Ich war irgendwann sogar besser als…hick…meine Brüder!“, erklärte Catherine und bekam nun einen Schluckauf. „Der Mistkerl und Hugo würden vermutlich immer noch reden, wenn ich nicht geschossen hätte!“, schloss sie trocken an. „Wer ist das eigentlich? Hick!“
„Baron d’Argencourt, Aurelies Vater“, erklärte Annette und nahm einen weiteren Schluck süße Flüssigkeit.
„Würde ich dich nicht so gut kennen, würde ich mich vor dir fürchten“, murmelte Hugo, während er auf d’Argencourt achtete, der sein Geschrei jetzt zu einem Wimmern gedämpft hatte.
„Und du meinst, du kennst mich, ja?“, gab Catherine spitz zurück und kämpfte einen weiteren Hick nieder, indem sie die Luft anhielt. Hugo war lange genug verheiratet, um nicht zu antworten.
„Immerhin kam er mit dir hierher“, mahnte Annette sanft. Sie kannte weiß Gott unbrauchbarere Ehemänner als Hugo du Foix und Catherine ging nicht gerade sorgsam mit einem derartig großzügigen Exemplar um. Catherine nickte und gönnte Hugo ein flüchtiges Lächeln.
„Ja, das stimmt und ich bin dir wirklich dankbar dafür“, gab sie in einem ungewöhnlichen Anflug von Weichheit zu. Dann fügte sie wieder gänzlich nüchtern hinzu:
. „Könntest du jetzt das Werkzeug benutzen, um Annette von den Ketten zu befreien, damit wir in absehbarer Zeit gehen können? Ich schätze, Annette hat die Nase gründlich voll von diesem Ort.“
„Der Komfort lässt zu wünschen übrig“, sagte Annette heiser.
Aber statt Stemmeisen und Hammer aus der Tasche zu holen, machte Hugo sich daran, den stöhnenden und jammernden d’Argencourt zu durchsuchen. Als Catherine schon Luft holte, um ihn ungeduldig zu fragen, was er da um Himmels Willen tat, förderte er einen einfachen Schlüssel hervor. „Vielleicht passt der ja zu den Handketten“, meinte er achselzuckend. D’Argencourt greinte: „Ich verblute! Ihr habt mich in den Bauch geschossen! Ich verblute!“
„Wenn es so schlimm wäre, wärt Ihr längst tot! Haltet also den Mund!“, fuhr Catherine ihn an.
Die Handschelle der rechten Kette gab ein knirschendes Klicken von sich, als der Schlüssel griff und sich die Schließe öffnete. Hugo grinste und Annette gönnte ihm den Geist eines Lächelns.
„Manchmal erst denken, dann machen!“, sagte Hugo mit leichtem Triumpf. Er stand auf, denn von seinem Platz konnte er die zweite Schelle nicht erreichen. Gerade bückte er sich danach…
„Ich bin auch mehr für’s Machen. Keiner bewegt sich!“ Die Worte schnitten wie eine Peitsche durch Papier. Alle zuckten zusammen.
„Malpart! Helft mir, Malpart!“, winselte d’Argencourt, aber Catherine hätte die Stimme des Inspecteurs auch so erkannt.
„Ihr verdammter, verlogener Bastard!“, zischte sie und machte Anstalten, neben Annette auf die Füße zu kommen. Malpart schwenkte eine seiner beiden gezogenen Pistolen zu ihr hin.
„Bleibt sitzen, Madame Salonniére! Wie außerordentlich unglücklich, Euch hier anzutreffen. Weder Euch noch Madame de Tourville wollte ich etwas antun. Es ging nur darum, dieses kleine erpresserische Miststück Aurelie zum Schweigen zu bringen. Weder gegen eine bekennende Sappho noch gegen eine intelligente, aufgeklärte Frau wie Euch, Madame du Foix, hege ich Groll. Aber natürlich kann ich auch keine Zeugen gebrauchen. Verdammt, d’Argencourt, Ihr habt wirklich alles vermasselt!“
Catherine verharrte in ihrer hockenden Position. Sie hielt Malpart für weit gefährlicher und entschlossener als zuvor d’Argencourt. Verdammt, sie hatte den Kerl bei ihrer ersten Begegnung anziehend gefunden! Sie und Männer!
„Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte sie. „Erschießt Ihr uns nun einen nach dem anderen, ja?“ Malpart schien darüber nachzudenken, aber dann nickte er. „Ich fürchte, das muss ich.“
„Malpart! Sie muss erst noch den Vertrag unterzeichnen“, winselte d’Argencourt vom Boden aus und Catherines Annahme, dass er zuvor vor allem Theater gemacht hatte, bestätigte sich nun. „Sie muss beurkunden, dass sie ihren gesamten Besitz Aurelie hinterlassen hat. Dann fällt es an mich und ich kann wieder zu dem Vermögen kommen, das ich einst hatte! Lass sie erst unterzeichnen!“ Er konnte nicht wirklich lebensgefährlich verletzt sein, wenn er jetzt mit so erstaunlich kräftiger Stimme reden konnte, stellte Catherine im Stillen fest. Gut, dass Hugo ihn gefesselt hatte! Aber das löste das Problem mit Malpart nicht. Dessen Augen richteten sich auf Annette.
„Und? Unterzeichnet Ihr?“, fragte er sie fast gelangweilt.
„Was hätte ich davon?“, entgegnete sie. Der gesüßte Tee hatte ihr ein wenig Kraft gegeben, wie es schien und sie konnte jetzt besser sprechen. Noch immer lehnte sie in Catherines Armen, sodass sie einigermaßen aufrecht sitzen konnte. Aber sie fühlte, wie Catherine sich von ihr zu lösen suchte und stützte sich unauffällig auf ihrer befreiten Hand ab. Dabei berührten ihre Fingerspitzen etwas Kühles und Glattes.
„Vielleicht erkauft Ihr das Leben Eurer beiden treuen Retter damit?“, schlug Malpart vor. Annette lachte kurz.
„Euch traue ich nicht einmal so weit, wie ich Euch werfen könnte“, sagte sie dann. Malpart kräuselte den Mundwinkel zu etwas ähnlichem wie einem Lächeln.
„Wie schade! Wo wir doch seelenverwandt sind, könnte man sagen“, sagte er. Annette versuchte, ungläubig ihre Augenbrauen hochzuziehen, was dank der Prellung in ihrem Gesicht nur schief gelang.
„Seelenverwandt? Ihr und ich? Das bezweifele ich!“
„Und dennoch ist es gewissermaßen so. Über kurz oder lang hätte das kleine Biest Aurelie auch Euch erpresst, da bin ich sicher. Ihr habt Euch mit ihr eine echte Schlange ins Haus geholt. Es mag ein Versehen gewesen sein, aber es war richtig, dass Ihr sie erstochen habt, Madame de Tourville. Aber, wie auch immer: Ich kann Euch und die anderen nicht am Leben lassen.“
Catherine blieb keine Zeit, die Informationen in ihrem Kopf zu einem Bild zusammenzusetzen. Es reichte lediglich, um „Ihr verfluchtes Dreckschwein!“, zu brüllen. Malpart hob die erste Pistole. Krachend fielen zwei Schüsse, sodass Steine von der Decke herabfielen und der Knall für einen Moment Taubheit zurückließ.
Catherine registrierte, dass sie nicht getroffen worden war, warf sich zur Seite und blickte sich suchend nach der Pistole um, die d’Argencourt fallengelassen hatte. Sie entdeckte sie in Annettes Hand, und die Waffe rauchte noch. Es war ein ungezielter Schuss gewesen, der aber ausgerechnet eine der Laternen getroffen hatte. Trotzdem konnte Catherine sehen, dass Malpart gerade seine zweite Pistole hob. Jemand schrie anhaltend und enervierend, eine andere Stimme fluchte und dann stürzte eine schemenhafte Gestalt aus dem offenen Tunneleingang auf Malpart zu.

Jean-Marc hörte die Schüsse. Jemand kreischte. Dann Catherines Stimme! Bei allen Höllen, was machte sie hier? Er ließ das Mädchen über das er gestolpert war, liegen und rannte gebückt durch den Tunnel auf den Tumult zu. Wie viele Leute befanden sich denn bloß dort? Jetzt sah er Licht und ließ seine Laterne fallen, um die Hände frei zu bekommen. Rannte um die letzte Ecke, vor sich ein wabernder Dunst aus Pulverdampf und hochgewirbeltem Kalkdreck. Der Umriss eines Mannes, der gerade eine abgefeuerte Pistole sinken ließ und eine zweite hob. Malpart? Mit einem Hechtsprung stürzte er sich von hinten auf ihn. Ein Schuss! Das Kreischen endete abrupt. ‚Jemand ist tot‘, dachte Jean-Marc. ‚Wer? Wo ist Catherine?‘ Dann krachte er mit seinem Gegner auf den Boden. Er musste rasch mit Malpart fertig werden und er würde rasch mit ihm fertig werden, denn der Inspecteur war ein Gentilhomme, zudem ein schwuler. Solche hatten Angst vor Schmerzen, oder? Dreckig kämpfen, wie auf der Straße, dann würde er ihn rasch unter Kontrolle haben!
Dachte Jean-Marc. Und erkannte, dass er sich irrte! Malpart hatte nichts zu verlieren und offensichtlich gab es auch unter Schwulen verbissene Kämpfer. Jean-Marc verlor seinen anfänglichen Vorteil, als Malpart nach einer zerbrochenen Laterne griff und ihm heißes Öl ins Gesicht spritzte. Brennende Nadeln. Jean-Marc hob in instinktiver Abwehr seinen Arm, um die Augen zu schützen. Malpart nutzte die Lücke sofort, legte beide Hände um Jean-Marcs Hals und drückte entschlossen zu! Verzweifelt grabschte Jean-Marc auf dem Boden herum, fand aber nichts, womit er etwas hätte ausrichten können. Schon tanzten farbige Punkte vor seinen Augen.

Catherine wusste nicht mehr, wer wann geschossen hatte. Nur, dass sie selbst noch unverletzt war, sich Annette in ihren Armen zumindest regte und Hugo gerade dabei war, sich aufzurappeln. Im diffusen Licht sah sie Malpart und Jean-Marc am Boden rollten während beide versuchten, einen Vorteil zu erlangen.
„Merde!“, fluchte sie, weil sie sich beim Versuch, in der engen Nische aufzustehen, in ihren Röcken verhedderte. Annette krabbelte zur Seite, um ihr Platz zu geben, aber Catherine hatte den Eindruck, sich nur wie durch Sirup bewegen zu können. Alles dauerte zu lange! Jean-Marc lag am Boden, röchelte, Malpart versuchte, ihn zu erwürgen. Hosen! Welchen Vorteil Männer doch durch Hosen hatten! Verflucht sollten sie alle sein! Wo war unter all dem Stoff ihr Messer? Verdammt, Malpart erwürgte Jean-Marc! Wo war Hugo schon wieder? Warum machte er nichts?
Dann sah sie, dass sie sich irrte: Hugo stand bereits hinter Malpart, hob einen scharfkantigen Kalksteinbrocken, den er irgendwo aufgeklaubt haben musste und – zögerte schon wieder!
„Hugo! Mach es!“, schrie sie ihm zu, kam selbst endlich auf die Füße.
Ihr Schrei alarmierte Malpart. Er sah über die Schulter, bemerkte Hugo, fletschte tatsächlich die Zähne, war im Dilemma: ließ er Jean-Marc los und verteidigte sich gegen Hugo, oder brachte er zuende, was er begonnen hatte? Hugo kam als erster zu einem Entschluss und schlug mit dem Stein zu. Zu halbherzig, um Malpart wirklich bewusstlos zu schlagen, doch immerhin hart genug, dass der von Jean-Marc abließ und taumelte.
Jean-Marc würgte, röchelte, hustete, rang verzweifelt nach Atem. Von Hugos Händen tropfte ein wenig Blut – der scharfe Stein hatte ihm die Haut aufgerissen. Catherine bekam endlich ihr Messer aus der Strumpfhalterung, packte es fest für einen Stoß von unten nach oben, bereit, Malpart aufzuschlitzen. Aber der war zäh wie ein Teufel. Hugos Schlag war gar zu schwach gewesen. Er sah Catherine kommen, rollte sich zur Seite, kam auf die Füße. Catherine schrie frustriert auf und setzte alles daran, ihn mit dem Messer zu erwischen, ehe er erneut angreifen konnte. Doch Malpart überraschte sie, indem er in einem Wimpernschlag den Kampf verloren gab und floh!
„Hugo, halt ihn auf!“, schrie Catherine, weil ihr Mann dem Ausgang zwei Spannen näher stand als sie selbst. Hugo versuchte es, wurde aber von Malpart einfach niedergewalzt wie von einem Hammel auf der Flucht vor dem Schlachtermesser. Beide stolperten, Hugo fiel, Malpart fing sich, und dann war er auch schon fort.

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