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Untergebene, die schnell verstehen

Paris, 15. Oktober 1737

„Michaud! Auf ein Wort in meinem Zimmer!“
Michel Michaud, der gerade auf dem Weg zum Ausgang der Präfektur gewesen war, hielt inne, unterdrückte einen Seufzer und drehte dann auf dem Absatz herum. Wenn der Lieutenant Génèral de Police rief, ließ man ihn nicht warten! Aber vielleicht machte er es ja kurz, sodass er seine Verabredung an der Comédie Française noch würde einhalten können. Nicht, dass er ein großer Verehrer der Thalia gewesen wäre, aber er gedachte dort Leute zu treffen, die kennenzulernen nützlich sein könnte. Und angeblich handelte es sich um ein ganz neuartiges Stück, das die üblichen Pfade Molières, Corneilles und Racines verließ. Angeblich war es lustig. Nun ja, Michel hatte so seine eigenen Vorstellungen von Vergnügen und die schlossen große, lärmende Menschenansammlungen für gewöhnlich aus. Insofern war es im Grunde egal, wie lange Hérault ihn aufhielt, es konnte nur gut ausgehen: Entweder, weil er dann leider nicht mehr ins Theater gehen konnte, oder weil er es eben doch konnte.
„Monsieur le Lieutenant?“, sagte er höflich im fragenden Ton, deutete eine kleine Verbeugung vor einem der mächtigsten Männer von Paris an und verschränkte die Finger abwartend vor einem der unteren Knöpfe seines Justaucorps.
„Wir haben den Mord an einem unbedeutenden Mädchen aus dem niederen Adel. Dies aber im Haus einer Dame de Salon, die in der Gunst der Königin steht. Zudem in Gegenwart eines Inspecteur de Police, was die Sache doch sehr dreist macht. Und wir haben das rätselhafte Verschwinden einer anderen Dame de Salon, die, laut Malpart, einen höchst zweifelhaften Ruf als Lesbierin hat. Für ihn ist sie zweifelsfrei die Mörderin. Soweit, so gut. Aber was genau hat Euer Assistent, der Hase, mit der Sache zu tun?“ Die letzte Frage trug den Hauch von Eis, das in keinem Verhältnis zu dem einigermaßen milden Oktobertag stand.
„Hat Inspecteur de Malpart sich beschwert?“, mutmaßte Michaud zurückhaltend, aber keinesfalls unterwürfig. War da etwa der Anflug eines Grinsens im Gesicht des Lieutenant Génèral? Aber nein, solche Blößen gab sich der oberste Polizeichef von Paris nicht vor seinen Untergebenen. Vielleicht, wenn er mit Kardinal de Fleury Schach spielte und ein, zwei Gläschen von dessen vorzüglichen Bordeaux genoss, den der von seinen eigenen Gütern im Frejux mitzubringen pflegte – da mochte es geschehen, dass Herault de Vaucresson grinste oder lächelte. Aber hier in der Präfektur auf der Île de la Cité und in Gegenwart eines einfachen Commissaire – sicher nicht.
„In der Tat! Er war wohl gestern noch einmal im Haus von Madame du Foix, weil er noch offene Fragen hatte, und traf dort Euren Assistenten Liévre an, der offensichtlich aus demselben Grund dort war. Nun?“
„Monsieur Liévre ist persönlich mit Madame du Foix bekannt. Ihr erinnert Euch sicher an die unerfreuliche Geschichte um den Premier Ecuyer und die Reitermorde?“
„Selbstverständlich!“ René Herault de Vaucresson stand in dem Ruf, niemals ein Verbrechen zu vergessen und dieses war durchaus spektakulär gewesen.
„Aus dieser Zeit stammt ihre Bekanntschaft. Am Abend des 10. Oktobers, an dem der Mord geschah, war Madame du Foix wohl ein wenig aufgelöst, wer kann es ihr verdenken. Nachdem Malpart und alle anderen Gäste gegangen waren und sie mehr oder weniger allein mit der Leiche zurückblieb, verlangte es sie wohl nach kompetenter Unterstützung, und so schickte sie nach Commissaire Liévre. Da ein solcher Fall durchaus in unseren Zuständigkeitsbereich fällt, nahm Liévre sich der Sache auch sogleich an.“ Michaud unterließ den Hinweis, dass er Herault de Vaucresson gleich am nächsten Tag eine Nachricht zu dem Fall geschickt hatte, und der ihm das Einverständnis, in dem Fall zu ermitteln mit einer rasch hingeworfenen Unterschrift erteilt hatte. Der Lieutenant erinnerte sich gerade selbst daran, wie er durch ein knappes Nicken kundtat. Eine Weile schwieg er.
„Soll ich Liévre sagen, dass er sich zurückzieht?“, fragte Michaud mit kalkuliertem Respekt. Wieder Schweigen. Dann schüttelte Herault de Vaucresson langsam den Kopf.
„Nein. Aber er soll von nun an diskret vorgehen. Und mich interessiert an der Sache weniger, wer dieses Mädchen umgebracht hat.“ Pause. Von draußen drang das Rattern einer viel zu schnell gefahrenen Kutsche gedämpft durch das Fenster hinauf und ließ die Stille im Raum umso staubiger wirken.
„Sondern?“, fragte Michaud sparsam.
„Mich interessiert, wie Malpart vorgeht. Am liebsten möchte ich, dass Ihr ihm einen schweren Fehler nachweist! Er ist überzeugt, dass die Lesbierin die Mörderin ist. Er ist ganz versessen darauf, sie zu finden und ihr den Mord nachzuweisen. Ich würde mich sehr freuen, wenn sich letztlich herausstellen würde, dass er sich irrt. Folgenschwer irrt!“
Michaud hob nur eine Winzigkeit die Mitte seiner Augenbrauen an. Dann nickte er sparsam.
„Sehr wohl, Monsieur le Lieutenant! Ist das alles, Monsieur le Lieutenant?“
„Das ist alles, Michaud. Oder vielmehr: sorgt dafür, dass Euer Hase nicht unnötigen Staub aufwirbelt, wenn er losprescht, verstanden?“
„Ja Monsieur le Lieutenant.“ Michaud verbeugte sich so knapp wie immer und verließ dann den Raum. Der Lieutenant erlaubte sich ein Lächeln, nachdem sich die Tür hinter dem Commissaire geschlossen hatte. Wenn doch alle seine Untergebenen so unkompliziert verstehen würden, was er von ihnen wollte! Eine Tapetentür öffnete sich in einer Ecke seines Amtszimmers. Ah, da kam allerdings einer, der darin noch besser war.
„Möchtet Ihr nun Euer Elixier nehmen, Monsieur? Coumba hat gesagt, dass Ihr es am besten vor den Mahlzeiten einnehmen sollt.“ Die riesige, muskulöse und breitschultrige Erscheinung des schwarzhäutigen Dieners stand in einem dissonanten Gegensatz zu seinen geschliffenen Manieren und seiner europäischen Kleidung. Obwohl er tadellos Französisch sprach, klang es immer, als rolle er dabei Flusskiesel in seinem Mund herum. Seine Stimme war angenehm dunkel und gedämpft. Er war Kammerdiener, Leibwache und persönlicher Betreuer des Lieutenant Géneral – und über die vielen Jahren, in denen er bereits in seinem Dienst stand, auch sowas wie ein Freund. Vielleicht war Ulysses der einzige Mensch auf der Welt, dem René Herault de Vaucresson wirklich voll und ganz vertraute, obwohl die gesellschaftliche Kluft zwischen einem der mächtigsten Männer des Reiches und einem schwarzen Ex-Sklaven kaum größer hätte sein können.
„Ich möchte nicht, aber vermutlich wirst du keine Ruhe geben, bis ich das Gebräu heruntergewürgt habe.“ René streckte die Hand nach dem dargereichten Silbertablett aus, auf dem ein Silberbecher stand, aus dem sanfte Dampfkringel aufstiegen. Vermutlich war es besser, nicht zu wissen, was darin war. Immerhin: René musste zugeben, dass seine dauernden Magenschmerzen erheblich nachgelassen hatten, seit er die Mixtur, die ihm diese Coumba zusammenmischte, vor seinen Mahlzeiten trank. Coumba, auch sie eine ehemalige Sklavin, die es auf verschlungenen Wegen nach Paris geführt hatte. Es gab eine ganze Menge von ihnen, wusste René, seit er Ulysses damals in seine Dienste genommen hatte. Die meisten waren noch immer Sklaven. Es war trés chique, einen schwarzen Hausdiener zu haben. Und für farbige Huren wurden in Bordellen gute Preise bezahlt, wenn sie auf ihre exotische Weise hübsch waren. Aber darüber hinaus lebten wohl auch etliche hundert illegal in Paris, immer in der Furcht, wieder eingefangen und auf ein Schiff nach Übersee verfrachtet zu werden. Die jämmerlichen Kreaturen ließen sich selten bei Tageslicht sehen. Ulysses, so vornehm er auch war, schien immer noch irgendwie in Kontakt zu Seinesgleichen zu stehen. Nun, René fragte ihn nicht danach, und Ulysses hätte es ihm nicht gesagt.
„Wünscht Ihr noch etwas, bevor ich Eure Kutsche vorfahren lasse?“, erkundigte sich Ulysses höflich.
„Nur das Justaucorp mit dem Pelzkragen. Bei diesem Preussen ist immer so schrecklich schlecht geheizt!“
„Es liegt schon bereit, Monsieur.“

Michel gabelte Jean-Marc in ihrem gemeinsamen Amtszimmer im dritten Stock der labyrinthartigen Präfektur der Polizei von Paris auf. Jean-Marc hatte einmal angemerkt, dass er sich manchmal nicht ganz sicher sei, wie viele der Menschen, die man auf den Gängen traf lebten und wie viele Geister waren. Michel hatte ihn fragend angeschaut. „Nun, da man sich hier mühelos verirren und getrost verhungern kann, ehe man einen Ausgang findet, wäre das doch möglich. Sieh dir den da an: Mensch oder Geist?“, hatte Jean-Marc mit toternstem Gesicht geantwortet und diskret auf einen Mann gewiesen, der in der Tat so bleich und starräugig unter seiner weißgepuderten Perücke hervor sah, dass Jean-Marcs Vermutung naheliegend schien. Michel hatte ein Lachen unterdrücken müssen. „Das ist der ehrenwerte Richter de Gencourt. Es ist in der Tat verdächtig, wie lang er dieses Amt schon bekleidet. Er könnte tatsächlich zwischendrin gestorben sein und niemand hat es je bemerkt.“
„Wir haben einen neuen Auftrag vom Lieutenant General“, verkündete Michel, während er die Tür hinter sich schloss.
„Ah ja? Ich wollte dich gerade fragen, ob wir gemeinsam zu den Eltern der Ermordeten fahren wollen, um sie zu befragen.“
„Das können wir machen – ich erzähle dir dann unterwegs von meinem Gespräch mit Herault. Es war recht – interessant!“ Damit konnte er gewiss sein, Jean-Marcs Neugierde geweckt zu haben.

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