Irgendwann unter Paris
Ihre Kleidung konnte nicht trocknen, weil unablässig Wasser von irgendwoher tropfte und der Boden innerhalb der Spannweite ihrer Handketten nirgendwo ausreichend trocken war, es sei denn, sie hockte sich auf ihre Fersen. Schon um ihre nackten Füße zu wärmen, versuchte sie das eine ganze Weile – aber bald schliefen ihr die Beine ein und scharfe Stiche fuhren ihr in die Glieder, als sie diese unbequeme Haltung irgendwann wieder aufgeben musste. Immerhin, es war nicht so kalt, dass sie befürchten müsste, zu erfrieren. Aber Annette empfand alles, was nicht Hochsommer oder Kaminfeuer war, als kalt.
Eine Weile hatte sie sich davor gefürchtet, dass derjenige, der sie hierher gebracht hatte kommen, und ihr etwas Gemeines antun würde. Es stand außer Zweifel für sie, dass es sich um einen Mann handeln musste. Also würde er sie vermutlich vergewaltigen, wenn er kam. Es einer Lesbierin mal so richtig besorgen, damit sie endlich wusste, wie die göttliche Ordnung gemeint war! Oder richtiger: Die von Männern gemachte Ordnung, die sich einen Gott erfunden hatten, der ihren Zielen dienlich war. Annette kannte diese Art Männer nur zu gut. Sie fühlten sich angegriffen, bedroht, erniedrigt einzig durch die Tatsache, dass eine Frau sie nicht für die Krone der Schöpfung hielt, der körperlichen und auch sonstigen Liebe mit Männern nichts abgewinnen konnte. Ihr Dasein an sich schien diese Männer zu beleidigen und sie zu Tode zu ängstigen. Und dann griffen sie auf das Einzige zurück, mit dem sie Frauen überlegen waren: Rohe Kraft und den Umstand, dass sie einen Schwanz hatten, mit den sie eine Frau penetrieren konnten. Die gehobene Gesellschaft von Paris war an der Oberfläche zivilisiert, ja manieriert. Sie war parfümiert, gepudert, geschminkt, in Brokat und Seide gekleidet – aber all das bildete nur eine sehr dünne Schicht, unter der das menschliche Tier noch immer allzu wach lauerte. Annette sah es in den Blicken, in kleinen Gesten, in Tonfällen, wenn Männer diesen einen Gedanken dachten: Dir hat es nur noch nie einer richtig besorgt. Lass mich einfach mal ran! Wenn derjenige kam, der sie hier hergeschleppt und angekettet hatte, würde er es unzweifelhaft auch versuchen. Und sie bezweifelte, dass sie es würde verhindern können.
Jetzt beobachtete sie, wie die Fackel zuckte, zischte, flackerte – und erlosch. Sie hatte sich gegen diesen Moment gewappnet und sich gesagt, dass es keine Rolle spielte, ob es dunkel oder hell war. Helligkeit änderte rein gar nichts an ihrer Situation. Was also sollte durch Dunkelheit noch schlimmer daran werden? Sie lernte fast sofort: Alles! Die Dunkelheit hier unten war nicht wie die Nacht oben in der richtigen Welt. Die Dunkelheit in diesem Höhlengang war, als hätte es niemals Licht gegeben! Sie war vollkommen und gab ihr das Gefühl, niemals Augen besessen zu haben. Sie schien sie ersticken zu wollen, kroch in sie hinein und krallte sich um ihre Eingeweide. Annette verlor das Gefühl dafür, wo unten und oben war und außerdem, was Zeit bedeutete.
Es war ausgerechnet das nervtötende Trippsen des Wassers, das ihr wieder Halt in Raum und Zeit gab! Als ihre Augen nichts mehr zu sehen hatten, schärften sich ihre anderen Sinne. Was nicht unbedingt ein Gutes war. Ihre Ohren zuckten förmlich bei jedem Tropfen, der von der Wand in eine Pfütze am Boden fiel. Ihre Nase zog sich zusammen wie die Haut auf einem Pudding, weil Kloake, Rattenkot und die Muffigkeit von abgestandener Luft sie beleidigten. Ihre Finger tasteten nichts als Fäulnis, Feuchtigkeit und Oberflächen, die glitschig und klamm waren. Und der Geschmack wollte von gar nichts etwas wissen, da die Nase ihm bereits mitgeteilt hatte, dass es hier nichts gab, was des Schmeckens wert war.
Und wenn niemand kam? Nicht einmal ein Mann, der sie vergewaltigen wollte? Wenn, wer auch immer, sie hierher gebracht hatte in der Absicht, nie wieder zu kommen? Sie hier langsam verhungern, verrotten, verfaulen zu lassen? Nicht einmal ihre Leiche würde hier je jemand finden, mutmaßte sie. Annette der Tourville, Grand Dame de Salon, gebildet, kultiviert, vermögend, eloquent, klug, geistreich – sie würde einfach verschwinden und nach einer gewissen Zeit des Verwunderns würden alle sie einfach vergessen. Kein Grabstein, kein Marmorengel, keine Inschrift, nichts. Annette der Tourville würde verschwinden, als hätte es sie nie gegeben.
An dieser Stelle begann sie, laut und aus dem Gedächtnis, aus Christine de Pizans ‚Stadt der Frauen‘ zu zitieren. Sie hatte dieses Buch so oft gelesen, dass sie es in weiten Passagen auswendig konnte. Oh ja, sie ging jeden Sonntag in die Kirche und gab sich nach außen hin fromm und gläubig. Denn andernfalls hätte man sie längst aus ihrem schönen Appartement an der Place Royale gezerrt und wegen einem halben Dutzend Verstöße gegen das „Göttliche Recht“ verurteilt. Paris mochte eine der liberalsten Städte Europas sein – und WENN Annette irgendeiner höheren göttlichen Gewalt für etwas dankbar war, dann dafür! – aber gleichgeschlechtliche Liebe war auch hier ein Verbrechen, das unter Todesstrafe stand. Gemeinhin war Paris nur geneigt, sich taub und blind zu stellen, solange man ihm die Möglichkeit gab, darüber hinweg zu sehen.
Also ging Annette in die Kirche, legte die Beichte ab, und führte außerhalb ihrer eigenen vier Wände das höchst respektable Leben einer kultivierten Pariserin. Das war viele Jahre gut gegangen. Bis jetzt. Aber das hier ging gewiss nicht vom Kirchengericht aus. Annette war sich allerdings nicht sicher, ob sie das trösten sollte.
„Diejenigen, die Frauen aus Missgunst verleumdet haben, sind Kleingeister, die zahlreichen ihnen an Klugheit und Vornehmheit überlegenen Frauen begegnet sind. Sie reagierten darauf mit Schmerz und Unwillen, und so hat ihre große Missgunst sie dazu bewogen, allen Frauen Übles…“ Annette stockte in ihrem Gedächtniszitat und hielt den Atem an. Waren da Schritte gewesen, die durch einen Tunnel hallten? Angestrengt lauschte sie. Da! Aber es war noch recht weit entfernt, wie es schien. Annette rappelte sich aus dem Sitzen hoch, wobei die Handketten leicht klirrten. Sie versuchte, sich ganz ruhig zu halten sobald sie stand, um das zu vermeiden. Wieder lauschte sie. Ja, das waren Schritte! Es war absurd, sich zu wünschen, wenigstens ein bisschen sehen zu können, denn schließlich würde das ihren Ohren überhaupt nichts nützen. Trotzdem war es so. Aber wenn die Schritte näherkamen, würde doch ganz sicher auch bald der Wiederschein einer Fackel den Gang hinaufgeistern, oder? Obwohl das nichts als Unbillen versprach, sehnte Annette sich mit jeder Faser ihres Seins danach. Alles war besser, als hier einfach vergessen zu werden, oder? Oder? Die Schritte schienen näher zu kommen – aber der Schall, der sie herantrug, war trügerisch. Annette atmete so leise wie möglich und wartete.