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Der Mohr im Rosenbeet

Rue Saint Antoine, 11. Oktober 1737 etwas später

Wenig später begann es zu regnen. Erst leise und zögerlich, aber binnen einer halben Stunde steigerte es sich zu hartnäckigen Bindfäden, die sich wie die Finger eines zudringlichen Kerls unter die Kleidung drängten und alles durchnässten. Catherine sah also vorerst davon ab, das Haus zu verlassen – zudem ihr noch keine Idee gekommen war, wo sie mit der Suche nach Annette beginnen könnte. Zu ihrer Wohnung an der Place Royale zu gehen war angesichts Malparts Vorpreschen sinnlos. Zudem sagte ihr ein Bauchgefühl, dass Annette ihr Appartement tatsächlich nicht mehr aufgesucht hatte, nachdem sie zu Catherines Salon aufgebrochen war. Ihr Verschwinden war rundum rätselhaft! Obwohl sie nicht glaubte, im Blauen Salon etwas zu finden, was nicht auch Jean-Marc gesehen hätte, ging sie erneut dorthin. Sie umging die freie Stelle, an der die Recamiére gestanden hatte – sie hatte sie unmittelbar nachdem Aurelie so nüchtern und unbetrauert abgeholt worden war aus dem Zimmer schaffen lassen. Catherine war sich noch nicht schlüssig, ob sie das Möbel restaurieren lassen oder lieber abstoße wollte. Es war eine ganz besonders schöne Recamiére, aber der Gedanke, dass sie von Aurelies Blut durchtränkt worden war, würde künftige Ruhestunden darauf wohl empfindlich stören. Sie schlug also einen Bogen um die Stellen, wo Eindrücke im Teppich vom Standort des Sitzmöbels zeugten und vermied es, den Blick auf die Blutflecke fallen zu lassen, die die Wollfäden des Perserteppichs hie und da erst durchtränkt und dann verkrustet hatten. Offensichtlich hatte das Hausmädchen vorerst noch andere Aufgaben zu erledigen, ehe es sich an die Reinigung des Teppichs machte. Catherine trat ans Fenster neben ihrem Sekretär und setzte sich auf das Kissen in der Erkernische. Hier saß sie oft und gern, fühlte sich damit halb draußen, halb drinnen und hing ihren Gedanken nach, ehe sie sich ans Schreiben setzte. Sie hatte es noch niemandem erzählt, aber seit einigen Wochen schrieb sie an ihrem Briefroman. Es sollte ein witziger Austausch zwischen einer fiktiven Pariserin und einer fiktiven Engländerin werden, die eine verheiratet mit einigen Kindern, die andere ledig und voller Flausen im Kopf, immer auf Männerjagd, um die Beute dann doch jedes Mal aus fadenscheinigen Gründen wieder von sich zu stoßen. Jedenfalls war das der Plan – aber Catherine hatte überrascht feststellen müssen, dass das, was so leicht aus ihrem Kopf sprudelte, oft nur als dürftiges Rinnsal auf dem Papier ankam. Wie gut, dass Hugo reich genug war, um für ihren Verschleiß an Schreibmaterial aufzukommen. Aber allmählich hatte Catherine das Gefühl, in Übung zu kommen. Die zerknäulten Papierbälle im Korb neben dem Sekretär waren zuletzt seltener geworden. Leider musste sie sich die stillen Schreibstunden oft genug stehlen, und selbst dann kam allzu häufig irgendeine häusliche Katastrophe dazwischen, die ihr Eingreifen, Schlichten, Organisieren erforderte und damit ihre Muse störte.
Es gab in dem Zimmer eine Kaminuhr, die laut vernehmlich von der marmornen Einfassung tickte. So wusste Catherine, dass sie erst wenige Minuten in ihrer geliebten Fensternische gesessen hatte, als mit lautem Rasseln und Hufgeklapper eine Droschke in den Hof fuhr. Hugo kam nach Hause. Damit wurden ihre gerade zur Ruhe kommenden Gedankengänge zwar einmal mehr zerrissen wie Spinnwebfäden, aber trotzdem erhob sich Catherine ohne zu zögern und ging, um ihren Ehemann zu begrüßen. Sie sagte sich zwar immer, dass sie ihn nicht innig liebte, aber sie mochte Hugo wirklich. Gelegentlich kam ihr der Gedanke, dass ihr harmonisches Miteinanderleben viel kostbarer war, als irgendeine stürmische, leidenschaftliche, flammende Liebe, wie sie in den Balladen besungen wurde. Über was hatten Menelaos und Helena abends am Kaminfeuer gesprochen, nachdem sie endlich nach Sparta heimgekehrt waren? Hatten sie überhaupt miteinander gesprochen? Sie und Hugo führten wunderbare Gespräche, schon allein, weil sie sich nach Hugos häufigen und gelegentlich langen Abwesenheitsphasen viel zu erzählen hatten. Hugo brachte dann eine Flasche eines neu entdeckten Weins, einer neuen Spirituose oder eines exotischen Likörs aus Übersee mit, goss ihnen beiden ein, und sie plauderten in behaglicher Zweisamkeit manchmal bis spät in die Nacht hinein. Nein, Catherine hätte es tausendmal schlechter treffen können, große Liebe hin oder her.
Natürlich war Thomas längst hinausgeeilt und hatte einen Regenschirm so ausgebreitet, dass Hugo auf dem kurzen Weg vom Droschkenschlag bis zur Haustür nicht nasser als nötig wurde.
„Danke Thomas. Was für ein Wetter! Jetzt ist es wohl endgültig Herbst!“, rief Hugo aus, als er im Flur stand und aussah, als wolle er sich schütteln wie ein Hund. Seine Perücke, sein Kragen und die Schultern seines Justaucorps waren feucht und auf seinen Culottes prangte auf dem Oberschenkel ebenfalls ein nasser Fleck. Aber wie üblich schien es ihn wenig zu kümmern. Er entdeckte Catherine, und dem Wetter zum Trotz breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, das den trüben Tag aufzuhellen schien.
„Catherine! Wie schön, dass du mich direkt an der Tür begrüßt! Aber was für scheußliche Neuigkeiten ich hören musste. Umso schöner mich sofort davon überzeugen zu können, dass du wohlauf bist.“ Es formulierte das nicht als Frage, denn es hätte Catherine womöglich beleidigt. Sie war stolz darauf, eine starke, unabhängige Frau zu sein, die sich nicht so schnell aus der Bahn werfen ließ. Aber ein Mord während und direkt neben ihrem Salon – das hätte viele Pariserinnen mit einem hysterischen Anfall auf Tage hinter die Bettvorhänge getrieben. Nicht so Catherine, nein, auf keinen Fall. Aber wie sah es hinter ihrer Fassade aus?
„Hugo, wie schön, dass du wohlbehalten hier bist. Bei diesem Wetter ist das Reisen ja wahrhaftig keine Freude! Ich hoffe, du kannst einige Tage bleiben?“ Sie bezog dies auf die wetterbedingten Reisebedingungen – aber sprach auch der Wunsch auf Unterstützung daraus? Eher nicht.
„Ich muss vorerst nicht mehr nach Honfleur oder Marseille. Alle Schiffe, auf denen ich Ladung hatte, sind bereits wohlbehalten in ihren Bestimmungshäfen angekommen. Nun ja, soweit wir es wissen können, natürlich. Die Segler nach Martinique und Louisiana liegen hoffentlich dort sicher im Hafen – aber vor dem nächsten Jahr, wenn sie zurückkehren, erfahren wir nichts über ihr Schicksal. Aber das weißt du ja. Ah, mein Gepäck und ja, die Kiste kommt auch herein, Claude. Stell sie hier ab, Thomas kann sie später in den Weinkeller einsortieren. Aber lasst uns eine Flasche gleich hier oben, wir probieren sie nachher im Salon.“ Hugo machte ein paar vage Gesten, aber zum Glück wussten die Diener ohnehin, was zu tun war.
„Komm endlich richtig herein!“, sagte nun Catherine mahnend. „Vermutlich möchtest du dich erst einmal umkleiden. Möchtest du ein Bad nehmen?“
„Eine Waschschüssel und ein Krug heißes Wasser reichen völlig aus, meine Liebe. Und vielleicht könntest du mir einen kleinen Imbiss hinaufschicken lassen – ich habe seit dem Morgen nichts mehr gegessen und das war obendrein eine Zumutung. Bis zum Diner halte ich nicht durch.“
„Papa!“ Der freudige Schrei schallte die Treppe hinab und gleich darauf schien eine ganze Herde Rinder auf der wilden Flucht vor dem Metzger die Stufen hinab zu stürmen, so donnerte das Holz unter den eiligen Kinderfüßen. Hugo konnte gerade noch die Arme ausbreiten, um Elian aufzufangen, der sich in jenem grenzenlosen Vertrauen, das nur Kinder hatten, von der dritten Stufe aus auf seinen Vater warf. Constance unterließ derartige Akrobatik zwar, war aber im nächsten Atemzug ebenfalls da.
„Oh Elian, Constance, dieses Benehmen!“, rief Catherine augenrollend und mit harschem Tadel in der Stimme – aber ebenso gut hätte sie einen Felssturz zurechtweisen können, weil er zu Tal rollte. Hugo, Elian auf dem einen Arm, den anderen um Constance geschlungen, lachte.
„Ach lass sie doch. Es ist doch schön, dass sie sich freuen, mich zu sehen!“ Ja, Hugo freute sich wirklich immer auf die Kinder, wenn er nach Hause kam. Ganz gleich wie scheußlich, anstrengend oder langwierig die Reise gewesen sein mochte, wie müde, schmutzig, verschwitzt oder durchfroren er war – er begrüßte stets zuerst Elian und Constance und im Grunde freute sich Catherine darüber. Die meisten Männer beachteten ihre Kinder überhaupt nicht, fühlten sich hauptsächlich von ihnen belästigt und wollten sie möglichst aus den Füßen haben. Nicht so Hugo. Und die Kinder erwiderten diese Liebe mit einer Begeisterung und Hingabe, die Catherine nie in ihnen entfachen konnte.
„Gut, ich schicke dann das Mädchen mit allem Nötigen hinauf!“, sagte Catherine spitzer als sie es beabsichtigt hatte. ‚Sieh halt zu, wie du dich mit zwei Kindern am Rockschoß säuberst und umziehst‘, war das, was sie wirklich sagen wollte.
„Ich mache das schon, Madame“, versicherte Thomas, dienstfertig wie immer und verdarb ihr damit den Abgang. Sie nickte etwas steif – das Verhältnis zwischen Thomas und ihr war ohnehin immer etwas kühl, denn er war mit Haut und Haar Hugos Diener – und ging dann einfach wieder in den Blauen Salon, auch wenn sie nicht mehr recht wusste, was sie da tun wollte. Hugo zog mit den Kindern die Treppe hinauf, wobei alle schwatzten wie eine Horde Spatzen. Na, das war doch großartig: Jetzt hatte sie hier unten wunderbar ihre Ruhe, niemand würde sie stören. Sie konnte konzentriert darüber nachdenken, wie sie vorgehen würde, um Annette zu finden.
Leider konnte sie besagte Ruhe einfach nicht genießen. In ihr prickelte es ununterbrochen. Bestimmt erzählten die Kinder nun Hugo alles über den Mord, brühwarm und sicher kaum authentisch. Eigentlich hatte sie mit ihrem Mann ernsthaft und in einem konstruktiven Austausch über alles reden wollen. Hugo hatte oft seinen ganz eigenen Blickwinkel auf die Dinge, der häufig überraschend scharfsinnig war. Nicht überraschend, weil er sonst dumm gewesen wäre – das war er ganz und gar nicht. Aber er dachte einfach anders als Catherines sonstiges Umfeld. ‚Das ist der Blick des Kaufmanns‘, hatte er dazu trocken gemeint, als sie einmal versucht hatte, das in Worte zu fassen. ‚Wir stellen immer eine Kosten-Nutzen-Rechnung an. Uns interessieret, was unterm Strich übrigbleibt und für wen die Ware interessant sein könnte, selbst wenn wir selbst dem Produkt nichts abgewinnen können.‘ Nun, einem Mord konnte sie ganz sicher nichts abgewinnen. Aber irgendjemand konnte – für wen also lohnte sich die Sache? Darüber wollte sie mit Hugo gern in aller Ruhe reden. Wenn ihm jetzt die Kinder schon alle möglichen wunderlichen Details in den Kopf setzten, mochte das seinen unbestechlichen Blick vielleicht doch trüben?
Catherine hielt es nicht mehr aus. Sie musste nach oben und die Kinder von Hugo abpflücken. Diese verflixte Gouvernante! Wo war sie schon wieder? Wofür bezahlten sie sie eigentlich? Die Frau war wirklich das unnützeste Mitglied dieses Haushalts seit Hugo und Catherine das Haus in der Rue Saint Antoine bezogen hatten! Catherine raffte ihre Röcke mit der linken Hand, ganz wie es einer Dame anstand, um dann nach oben zu schleichen und zu lauschen, wie es einer Dame ganz und gar nicht anstand.

„Das war wegen dem Mohr im Rosenstock“, sagte Elian gerade, als sie die angelehnte Tür des Kinderzimmers erreichte. Catherine musste sich Mühe geben, nicht zu lachen. Das war doch mal was Neues.
„Ein Mohr im Rosenstock?“, vergewisserte Hugo sich erstaunt.
„Ach, den hat Elian bloß erfunden, weil er sich davor drücken wollte, das Fensterbrett sauber zu machen!“, mischte sich Constance ein. „Er erfindet immer Sachen, wenn er sich vor was drücken will!“
„Petze!“ sagte Elian mit Verbitterung in der Stimme.
„Aber…“
„Ich dachte, ihr wolltet mir erzählen, wie es euch beide in Mamans Schreibzimmer verschlug!“, unterbrach Hugo die beiden kleinen Zankhähne. Catherine musste zugeben, dass er das geschickter machte als sie. Sie hätte Elian jetzt einen Vortrag übers Flunkern und Constance einen übers Petzen gehalten. Danach hätten beide verstockt geschwiegen. Verflixt, warum konnte Hugo das einfach?
„Maman hat mir doch, dass ich die Taubenkacke auf dem Fensterbrett entfernen soll“, begann Elian. Dieser kleine Mistkerl! Natürlich musste er das verbotene Wort sofort wieder anbringen. Und Hugo ließ es durchgehen. Natürlich.
„Aber zuerst kam ich nicht dazu. Bis zum Schlafengehen war dauernd was anderes.“ Hier imitierte Elian sehr gekonnt die Stimmlage seines Vaters, wenn der denselben Satz gebrauchte und Catherine sah vor sich, wie Hugo schmunzelte. Es war absurd, dass sie hier draußen stand und lauschte – aber sie wusste, dass sie das unbeschwerte Erzählen sofort unterbrochen hätte, würde sie jetzt hineingehen. Und vielleicht erzählten die Kinder Hugo etwas, was sie weder ihr noch Jean-Marc bislang erzählt hatten.
„Aber dann fiel es mir wieder ein und…“
„ICH habe dich daran erinnert!“, warf Constance wichtig ein. Catherine atmete auf ihrem Lauscherposten tief durch und bat Gott still um Geduld.
„Jedenfalls wollte ich es vor dem Schlafengehen noch erledigen!“, versetzte Elian
„Aber ich kam mit der Bürste so schlecht an das Sims heran und darum stieg ich auf den Hocker.“
„Am offenen Fenster?“, stellte Hugo die entsetzte Frage, die Catherine fast entwischt wäre. „Du hättest hinausfallen können. Warum hat Elise das nicht verhindert? Wo war sie denn?“
‚Und wo ist sie jetzt?‘, ergänzte Catherine im Geiste.
„Sie hat geschlafen und geschnarcht“, erklärte Constance und hatte schon wieder diesen leicht hämischen Unterton. „Jetzt auch, glaube ich.“
Das war wirklich genug! Es hielt Catherine jetzt nicht mehr draußen. Mit einem energischen Schwung schob sie die Tür auf. Drei Augenpaare, zwei braun, eins blau, sahen sie überrascht an. Hugo saß auf dem Lehnstuhl, den normalerweise die Gouvernante benutzte, um über die Kinder zu wachen. Elian und Constanze saßen gemeinsam auf Constanzes Bett – wenn es bei Elian auch mehr ein Lümmeln denn ein gesittetes Sitzen war. Immerhin ließ er die Schuhe über den Bettrand hinaushängen.
„Sie schläft? Jetzt? Am hellichten Tag?“, fragte sie ungläubig und ungehalten. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie damit den Erzählfluss wirksamer abgeschnitten hatte als ein Henkersbeil einen Hals durchtrennen konnte. Elian zog ein frustriertes Gesicht. Seine schöne Geschichte!
„Das macht sie öfter. Erst trinkt sie Cognac und dann schläft sie ein“, sagte Constance spitz. Elian sah sie wütend an. „Ach, es stimmt aber doch!“
„Ja, aber jetzt kriegen wir ein neues Kindermädchen und dann ist es aus mit der Freiheit!“ stöhnte Elian. Catherine sah ihren Sohn, dann auch ihre Tochter verblüfft an. „Ich fasse es nicht! Da herrschen ja schöne Zustände in der oberen Etage. Und ich weiß nichts davon. Unglaublich! So etwas müsst ihr mir doch sagen!“ Immerhin machte auch Hugo einen entsprechenden Laut, der seine Zustimmung zu Catherines Ungehaltenheit ausdrückte. Vermutlich.
„Ich wollte ja, aber Elian hat gesagt, dass es so viel praktischer ist!“, schob Constance sofort ihrem Bruder wieder die Schuld zu.
„Du scheinst diese Meinung aber bislang durchaus geteilt zu haben! Nun gut, ich kümmere mich nachher darum! Jetzt bleiben wir erstmal bei gestern Abend.“ Catherine atmete tief durch, sprang innerlich über ihren Schatten, derlei Sachen sofort zu erledigen und verbannte den Gedanken an das unverantwortliche Kindermädchen vorerst. Schließlich war Elian ja nachweislich nicht aus dem Fenster gestürzt, sonst stünde er jetzt nicht vor ihr. „Du standest also auf dem Hocker. Weiter!“ Alle entspannten sich wieder
„Ja, weil ich so die Bürste viel fester aufdrücken konnte. Die Vogelka…, also der Dreck,“ Elian warf einen fragenden Blick zu seiner Mutter, aber dieser Ausdruck schien wohl durchzugehen, „saß nämlich ganz schön fest. Ich musste mich drüber beugen, um das abzukriegen. Dabei muss ein Teil von der Vogelka…, also von dem Dreck an der Hauswand heruntergefallen sein. Ich hörte von unten ein böses Wort, ganz leise, aber ich habe scharfe Ohren!“ Beifall heischend hob er den Kopf und Catherine fiel auf, dass Elian anfing, seinem Vater mehr und mehr zu gleichen. Der hörte sichtlich gespannt zu.
„Angeber! Ich habe das sogar im Zimmer gehört!“, machte Constance ihren Buder sofort nieder. Ausnahmsweise ignorierte Elian sie und fuhr stattdessen in seinem Bericht fort.
„Ich sah also an der Hauswand hinunter und da stand eine ganz und gar schwarze Gestalt im Rosenbeet!“
„Schwarz gekleidet, meinst du?“, fragte Catherine, nun sehr angespannt, nach.
„Nein, das Gesicht war auch schwarz. Ich konnte nur einen Moment das Weiß in seinen Augen blitzen sehen!“ Elians Stimme nahm nun einen dramatischen Klang an. „Wie in deiner Geschichte, Papa, die du uns vor kurzem von deinem schwarzen Arbeiter in Honfleur erzählt hast ‚Aus dem Dunkel des Schuppens konnte ich nur das Weiß seiner Augen blitzen sehen‘“, deklamierte er wie ein Bühnenschauspieler. Hugo lachte vergnügt.
„Wie gut du dir das gemerkt hast!“, lobte er begeistert. Saßen hier gerade drei Kinder? Männer wurden wohl nie ganz erwachsen.
„Elian, erzählst du auch ganz sicher gerade die Wahrheit?“, hakte Catherine nach. Ihr Sohn nickte heftig.
„Bei der Heiligen Genoveva!“, bekräftigte Elian mit allem Ernst, der ihm mit seinen sechs Jahren zu Gebote stand. Die Schutzheilige von Paris war neuerdings seine Lieblingsheilige, wusste der Himmel, wo er das aufgeschnappt hatte. Elian fing sich neue Begriffe ein wie andere Kinder Erkältungen.
„Nun gut, also ein Mohr im Rosenbeet, ja? Und was tat er da?“, drängte Hugo die Geschichte weiter.
„Ich habe keine Ahnung. Es war ja schon so dunkel. Er war dann fast sofort verschwunden. Aber weil er da unten ja direkt vor dem Fenster des Schreibzimmers war, dachte ich, wenn ich runterlaufe und dort aus dem Fenster schaue, könnte ich ihn sehen“, erklärte Elian. Catherine atmete scharf ein. Natürlich! Das Kinderzimmer lag genau über dem Blauen Salon und ihre Fenster gingen in dieselbe Richtung!
„Aber das Fenster in meinem Schreibzimmer war geschlossen, als ich mit Malpart dort war! Elian, wann war das genau?“
„Weiß nicht“, gab Elian zu.
„Die Uhr in der Halle hatte gerade die halbe Stunde nach Sechs Uhr geschlagen“, brachte sich jetzt Constance wieder ein und bedachte Elian mit einem Große-Schwester-Blick.
„Aber es war mehr als eine Stunde später, bis Elian bei uns hereinplatzte und von der toten Aurelie berichtete!“, rief Catherine aus.
„Das lag an Elise. Die tauchte ausgerechnet da wieder auf und bestand darauf, uns zu Bett zu bringen. Von dem Mohren im Rosenbeet wollte sie nichts wissen. Diese Frau hat keinen Sinn für Abenteuer!“, erklärte Elian, und man hörte ihm immer noch an, wie sehr ihn diese Missachtung seiner Glaubwürdigkeit empört hatte.
„Als alles nichts half, gaben wir vor, zu gehorchen“, führte nun Constance die Geschichte weiter. „Wir gingen ins Bett und warteten, bis Elise fort war. Dann standen wir ganz leise wieder auf und schlichen uns hinunter.“ Jetzt konnte auch sie nicht mehr anders, als die Geschichte zu genießen.
„Die Tür war nur angelehnt. Wir lauschten von draußen einen Moment, aber weil nichts zu hören war, gingen wir hinein. Und da haben wir dann sofort die tote Frau auf dem Canapé gesehen“, riss Elian den Erzählfaden wieder an sich.
„Das ist eine Recamiére, kein Canapé, du Dummerchen!“, berichtigte Constance ihren kleinen Bruder natürlich sofort.
„Ach, das ist doch völlig schnurzegal! Die Frau lag da und es war sofort klar, dass sie tot war. Das ganze Blut und wie sie da hing. So, Papa!“ Elian wiederholte seine verdrehte Haltung, die er bereits im Großen Salon zum Besten gegeben hatte, rollte die Augäpfel so weit nach hinten, dass Catherine befürchtete, sie könnten einfach für immer steckenbleiben und bleckte die Zähne wie ein totes Frettchen.
„Das ist eklig!“, schimpfte Constance. „Und außerdem lag sie nur einfach da, ohne all den Quatsch. Aber mit dem Blut, das stimmt!“
„Und das Fenster, war das offen oder geschlossen?“, fragte Catherine, weil ihr die Frage ja ohnehin schon auf der Zunge lag.
„Ömm, weiß nicht. Da habe ich nicht hingeguckt“, gab Elian zu, enttäuscht, dass niemand seine schauspielerische Dramatik zu würdigen wusste.
„Es war zu!“, sagte Constance hingegen mit Bestimmtheit.
„Hast du denn dorthin geschaut?“, fragte Catherine erstaunt. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie in Anbetracht einer Leiche, die unmittelbar vor ihr lag ganz sicher nicht zu einem der Fenster gesehen hätte.
„Nicht direkt. Aber der Straßenlärm war so gedämpft, wie er es bei geschlossenen Fenstern ist“, gab Constance ungerührt zurück. ‚Die Tochter ihres kriminalistischen Vaters‘, schoss es Catherine unwillkürlich durch den Kopf. Der Satz hätte von Jean-Marc stammen können.
„Kluges Mädchen!“, lobte Hugo und erntete ein kurzes Lächeln, das wie Kerzenschein aufflammte, gleich darauf aber wieder zurückgenommen wurde.
„Jedenfalls war die Frau aber tot!“, beharrte Elian, der sich in Gefahr sah, in den Hintergrund gedrängt zu werden.
„Habt ihr was angefasst? Seid ihr zu ihr gegangen?“, wollte Catherine wissen.
„Nur ganz kurz. Wir mussten doch sicher sein, dass sie tot ist, bevor wir dir das sagen konnten. Schließlich willst du bei Salons ja nicht gestört werden!“ Oh, welch ein Musterknabengesicht! Wenn er älter war, würde er rotes Wasser für Bordeaux verkaufen können und die Käufer würden noch meinen, ein ganz besonders gutes Geschäft gemacht zu haben!
„Ich verstehe“, sagte sie mit unbewegter Miene. „Ihr habt demnach auch nicht mehr nachgeschaut, ob da noch ein Mohr im Rosenbeet war, nein?“
„Aber Maman! Wo er die Frau doch schon umgebracht hatte – was sollte er da noch im Rosenbeet machen?“, rief Elian erstaunt und ausnahmsweise schien Constance mal seiner Meinung zu sein und betrachtete ihre Mutter, als wäre die plötzlich schwachsinnig geworden. Unvermittelt fröstelte es Catherine. Was, wenn die Kinder sofort hinunter gegangen wären? Hätte das den Mord verhindert? Oder wären sie vielmehr selbst in Gefahr geraten? Und wo blieb Annette bei all dem?
„Ein Mohr im Rosenbeet, das klingt mehr nach einer Salon-Romanze denn der Realität“, murmelte sie.

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