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Ulysses

Willkommen in 2023! Aber im Blog geht es weiter im 18. Jahrhundert.

Michel stand auf, warf einige Münzen auf den Tisch und ging ebenfalls. Sein Ziel war die Préfecture auf der Isle de la Cité. Vielleicht war Herault de Vaucresson ja noch dort – und mit ihm sein Leibdiener Ulysses. Michel musste sich eingestehen, dass er sich vor diesem Schritt heute den ganzen Tag gedrückt hatte. Aber es war höchste Zeit, sich um den Mohren im Rosenbeet zu kümmern. Ulysses war der einzige Mohr, den Michel kannte. Allerdings war „kennen“ immens übertrieben. Gelegentlich sah er ihn im Zimmer des Lieutenant Géneràl. Der Mann pflegte eine Aura der Unnahbarkeit um sich zu legen und verbat sich rein körpersprachlich jegliche Annäherung. Man konnte sich nicht einmal vorstellen, wie er aß, schlief oder gar seine Notdurft verrichtete. Er war eher wie ein Phantom denn ein Mensch und wenn er wirklich einmal aus dem Schatten hervortrat, dann als Bedrohung für jedwedes Lebewesen, was seinem Herrn zu nahe kommen könnte. Es ging die Mär, dass er das Herz eines jeden Menschen, der den Lieutenant Géneràl bedrohte, noch vor dessen brechenden Augen verspeiste. Nun gut, es ging schließlich nichts über einen sorgfältig aufgebauten Ruf, n’est ce pas? Dennoch verspürte Michel sehr wenig Lust darauf, Herault de Vaucresson um eine Unterredung mit dessen Leibdiener zu bitten. Aber es half wohl nichts. Aber vielleicht war der Lieutenant Géneràl ja heute auch früh nach Hause gegangen?

Nein, das war er nicht. Sein Sekretär, ein Mann der aussah, als hätte er diesen Posten bereits für Gabriel Nicolas de la Reynie versehen, harrte noch im Vorzimmer aus und schrieb akribisch in irgendein dickes Buch. Als Michel Michaud in seiner Tür erschien, sah er blinzelnd wie eine Eule auf.
„Ja?“, fragte er mit einer Stimme, die in Michel immer das Verlangen hervorrief, ein Ölkännchen zu holen.
„Ich bitte um ein Gespräch mit dem Lieutenant Gèneral. Sagt ihm, dass es mit dem Salon-Mord zu tun hat“, sagte Michel in einem geschäftsmäßigen Ton. Der Sekretär blinzelte erneut, so als würde die Bewegung seiner Lider helfen, das Gehörte zu seinem Gehirn zu befördern. Dann, so langsam wie Gras wuchs, legte der Sekretär die Feder nieder, löschte das, was er geschrieben hatte, sorgfältig mit Sand ab und erhob sich dann, wobei Michel hätte schwören können, jedes einzelne Gelenk des Mannes knarzen zu hören.
„Ich frage den Lieutenant Géneràl, ob er Euch empfängt“, schnarrte die Roststimme.
Es dauerte nicht lange, bis Michel vorgelassen wurde. Das war der Vorteil dieser recht späten Stunde: die Préfecture war so gut wie ausgestorben. Michel nickte dem Sekretär knapp zu, dann betrat er Herault de Vaucressons großzügiges Arbeitszimmer mit Blick zum südlichen Seine-Ufer.
„Ich bitte, meine späte Störung zu entschuldigen, Monsieur Lieutenant Géneràl“, eröffnete Michel. Wo war Ulysses? In dem kleinen privaten Nebenzimmer? Oder hatte Herault de Vaucresson ihn bereits vorausgeschickt, um zuhause alles vorzubereiten? Nein, zu so später Stunde würde er auf die Begleitung des hünenhaften schwarzen Dieners, der mindestens so viel Leibwächter wie Leibdiener war, nicht verzichten.
„Ich bin ganz Ohr, Commissaire“, sagte der oberste Polizeichef von Paris.
Zunächst erstattete Michel ihm Bericht über das Wenige, das sie bislang herausgefunden hatten, wobei er sich die Beschreibung von Madame du Foixs Sohn bis zum Schluss aufsparte. Bis hierher hatte Herault de Vaucresson ihm mit etwas gelangweilter Miene gelauscht – bei ihm nie ein gutes Zeichen. Ihm war eindeutig zu dürftig, was sie bislang wussten und Michel musste ihm innerlich leider beipflichten. Vor allem hatten sie noch rein gar nichts gegen Malpart in der Hand.
„Ein Mohr im Rosenbeet – wie poetisch“, sagte Herault de Vaucresson nun mit leichtem Spott. „Ich nehme an, dass Ihr gekommen seid, um mit Ulysses zu sprechen.“ Das war keine Frage, sondern eine trockene Feststellung. Michel nickte nur bestätigend. Herault de Vaucresson dachte einen Moment nach. „Und was versprecht Ihr Euch davon? Ihr werdet ja wohl kaum annehmen, dass Ulysses der fragliche Mohr war.“ Es lag keine Belustigung mehr in seiner Stimme, aber auch noch keine Drohung, nicht einmal Befremdung. Es war wieder nur eine Tatsache.
„Ich erhoffe mir Auskünfte über andere Mohren in Paris. Es sind nicht allzu viele und ich würde erwarten, dass Ulysses vielleicht über sie Bescheid weiß und eine Einschätzung abgeben kann, wer dafür in Frage kommen könnte und wo wir solche Leute finden können.“ Jetzt hellte sich die Miene des Lieutenant Gèneràl auf und Michel wusste, dass er die richtigen Worte gefunden hatte.
„Nun, das ist natürlich möglich. Ulysses!“
Der Diener tauchte auf wie ein Geist aus der Flasche. Verdammt, die Tür zum Nebenzimmer hatte sich doch gar nicht bewegt! Eben noch waren sie allein gewesen und im nächsten Augenblick stand der große Schwarze hinter Herault de Vaucresson, als wäre er aus dem Teppich erwachsen. Hatte er sich zuvor hinter den Vorhängen verborgen? Aber auch diese hingen still und steif herab. Michel musste einen leichten Schauder unterdrücken.
„Monsieur.“
„Commissaire Michaud möchte sich mit dir über andere schwarze Menschen in Paris unterhalten“, informierte Herault de Vaucresson seinen Diener. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück wie ein unbeteiligter Zuhörer. Der große schwarze Mann richtete seine dunklen Augen auf den Commissaire. Es war das erste Mal, dass Michel einem Menschen anderer Hautfarbe direkt ins Gesicht sah. Es traf ihn wie ein Schlag, als ihm binnen eines Herzschlags klar wurde, dass es sich um ganz normale Menschen handelte und dass mindestens dieser da vor ihm um ein Vielfaches intelligenter sein musste, als die meisten Weißen, denen er je begegnet war. Intelligent und gefährlich!
„Wir suchen nach einem schwarzen, vermutlich kräftigen Mann, der am frühen Abend des 10. Oktobers in der Rue Saint Antoine vermutlich im Zusammenhang mit einem Mord und einer Entführung stehen könnte. Wir haben dazu allerdings nur die Aussage zweier Kinder, die zudem nur einen kurzen Blick aus dem oberen Stockwerk des Hauses hinunter ins Dunkel vor der Hauswand werfen konnten. Dennoch muss ich dieser Spur nachgehen. Bislang ist vor allem ein Chevalier Lagrange verdächtig, mit diesen Vorfällen etwas zu tun zu haben. Ist Euch ein Mann Eurer Hautfarbe bekannt, der in einem Abhängigkeitsverhältnis zu besagtem Chevalier steht oder einer, den Lagrange oder ein anderer gegen Geld zu solch einem Auftrag hätte einkaufen können?“, formulierte Michel seine erste Frage sehr sorgfältig. Die Augen des Dieners musterten ihn ruhig.
„Nein. Weder das eine noch das andere. Ich pflege wenig Umgang mit meinesgleichen. Meine Stellung lässt mir keine Zeit dafür“, antwortete Ulysses dann und seine Stimme war so tief und dunkel, dass sie ein Echo in Michels unterem Bauch fand.
„Wäre es Euch denn gegebenenfalls möglich, Erkundigungen in dieser Richtung einzuziehen. Erkundigungen, die meinesgleichen nicht erhalten würde, schon weil ich nicht wüsste, wo ich danach suchen muss?“, fragte Michel bedächtig weiter. Es dauerte eine ganze Weile, bis Ulysses sich wieder regte, Er holte keine Erlaubnis oder dergleichen bei Herault der Vaucresson ein, ehe er schließlich langsam nickte. „Ja, das ist möglich“, sagte er. Michel erkannte, dass dies noch keine Bereitschaft, es dann auch tatsächlich zu tun beinhaltete.
„Es wäre der Aufklärung dieses Falles höchst dienlich, wenn Ihr diese Erkundigungen einziehen könntet, Monsieur Ulysses. Außerdem würde es vielleicht das Leben der entführten Frau retten.“ Michel sah keine Veranlassung, explizit um die Mithilfe des Dieners zu bitten. Er würde es tun oder nicht. Vielleicht konnte Herault de Vaucresson es ihm auch befehlen – wenn er es wollte. Aber es sah nicht danach aus, als fühle sich der Lieutenant Géneràl dazu bemüßigt. Der saß immer noch entspannt zurückgelehnt in seinem Stuhl und beobachtete das ungleiche Gespräch mit leichtem Amusement.
„Ich danke Euch für Eure Zeit. Monsieur Lieutenant Géneràl. Ulysses.“ Michel verbeugte sich vor Ersterem und nickte Letzterem zu, dann drehte er sich um und verließ das Büro.
„Kannst du in der Sache weiterhelfen?“, erkundigte sich Herault de Vaucresson, nachdem sich die Tür hinter seinem Commmissaire geschlossen hatte.
„Gewiss. Ich muss dafür einige Leute aufsuchen, deren Kontakt ich lieber meiden würde, aber ich kann diese Erkundigungen einziehen“, antwortete Ulysses ruhig. Herault de Vaucresson nickte.
„Gut. Dann lass uns für heute Schluss machen und nach Hause fahren. Danach hast du frei, solange du brauchst oder magst. Bitte hole mir meinen Mantel. Das hört sich nach scheußlichem Wetter an da draußen. Wozu braucht die Welt bloß Winter?“

Puce.

Zweimal war sie schon so nah an das Haus herangegangen, dass sie den Eingang hatte beobachten können. Es war ein vornehmes Haus, wie sie befürchtet hatte. Aber doch nicht so vornehm, dass es schon unüberwindlich gewesen wäre, nur bis zur Türglocke zu kommen. Es gab ein großes Tor, durch das Kutschen in einen Innenhof fahren konnten, aber es gab auch eine Haustür, die nur einige Stufen entfernt der Straße lag. Daneben wucherte ein großer Rosenstock, der selbst um diese Jahreszeit noch kraftstrotzend aussah und einige wenige verbliebene gelblich-rosa Blüten trug, wenn diese auch fleckig vom Regen waren. Puce kannte Blumen nur als Schnittware vom Markt und empfand sie als völlig überflüssig, da man sie weder essen noch zu Geld machen konnte. Doch hier, als Unterbrechung der langen steinernen Hausfassaden, berührten sie merkwürdigerweise etwas tief in ihrer abgenutzten Seele. Die Frau im Tunnel gehörte hierher? Musste ihre Gefangenschaft dort im Dunkel dann nicht besonders schlimm für sie sein, wenn sie sonst gewohnt war, Rosen zu sehen?
Und trotzdem traute Puce sich nicht, die letzten Meter zu dem Haus zu gehen und die Glocke zu läuten. Irgendjemand hatte die Frau in den Tunnel gebracht und dort angekettet. Was, wenn er sie, Puce, jetzt hier sah? Was, wenn er sich dann an ihr rächte? Niemand würde Puce helfen, wenn er sie dort unten anketten sollte. Niemand scherte sich um Puce, weil Puce niemand war.
Aber die Belohnung, die die Frau ihr in Aussicht gestellt hatte! So viel Geld und obendrein noch Schuhe und ein Umschlagtuch! Der Winter stand vor der Tür. Im Sommer konnte ein Straßenmädchen sich der Illusion hingeben, dass solch ein freies Leben doch großartig sei. Aber der Winter spiegelte mit hässlicher Fratze dann die Wahrheit: Das Leben als Straßenmädchen in Paris war hart, grausam und gnadenlos. Puce hatte bislang überlebt, weil sie schlau, geschickt und vor allem vorsichtig war! Oh ja, so vorsichtig! Warum sie überhaupt den Rufen der angeketteten Frau gefolgt war, wusste sie nicht. Das war nicht vorsichtig gewesen, ganz und gar nicht. Vielleicht war sie gegangen, weil es eine Frauenstimme gewesen war. Oder – ach zum Teufel, sie hatte keine Ahnung, warum. Und jetzt stand sie hier, festgenagelt zwischen dem Verlangen nach der Belohnung und ihrem tief verwurzelten Misstrauen gegen die Häuser der Reichen. Als sie zuletzt eines betreten hatte, war es sehr übel für sie ausgegangen. Und jetzt wollte sie das wieder versuchen? Nein! Oder doch? Die Gefahr! Die Belohnung! Fast war es Puce, als rissen zwei Mächte an ihr: Die eine nach vorn, die andere zurück.

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