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Chevalier

Vor Weihnachten hat es leider nur für ein halbes Kapitel gereicht. Hier kommt nun die zweite Hälfte
Ich wünsche Euch allen einen guten Rutsch und ein gesundes, friedliches und hoffentlich frohes 2023!

Jean-Marc hatte Michel eine Nachricht geschickt, ehe er diesen kleinen Coup begonnen hatte. Jetzt hoffte er, dass sein Partner am vereinbarten Treffpunkt sein würde. Dort lotste er Lagrange nun hin. Es handelte sich um eine kleine Schänke unweit der Eglise Saint Severin auf der Isle de la Cité. Der poetische Name „La musique des anges“ konnte allerdings nicht über das verrußte Innere hinwegtäuschen. Doch hier wurde anständiges Essen zu anständigen Preisen serviert und das Bier schmeckte weniger nach Hundepisse als anderswo. Mehr verlangte der durchschnittliche Pariser nicht, wenn er eine Schenke aufsuchte. Lagrange zog freilich ein wenig die Nase kraus – er dünkte sich offensichtlich vornehmer als sein Stand es annehmen ließ. Nun, da konnte Jean-Marc ihm nicht helfen. Aber er war erleichtert, als er Michel an einem der derben Tische sitzen sah, einen halb geleerten Humpen Bier vor sich. Jean-Marc schob den widerstrebenden Lagrange dorthin.
„Chevalier Lagrange: Mein Partner, Commissaire Michaud“, stellte er vor. Lagrange hatte sich auf dem Weg hierher etwas entspannt. Der junge Commissaire erschien ihm bei zweiter Betrachtung keine Gefahr darzustellen. Jetzt versteifte er sich erneut. Zwei Commissaires Rede und Antwort stehen zu müssen, erschien ihm bedrohlich. Er merkte, dass er schwitzte, und er zögerte, sich hinzusetzen.
„Guten Abend, Chevalier Lagrange. Welch gute Idee von Commissaire Liévre, dieses Gespräch mit einem warmen Abendessen zu verbringen, anstatt es in doch recht kalter Atmosphäre in der Präfecture zu führen, n’est-ce pas?“, sagte Michel Michaud liebenswürdig. Die Anspielung auf die berüchtigten Verhörräume hing im Raum wie der Essensdunst. Lagrange setzte sich. „Es gibt eine Cassoulet, wurde mir gesagt, oder heiße Fleischpasteten“, schloss Michel fast fröhlich an. „Was darf es denn für Euch sein, Chevalier?“
„Nur einen heißen Wein, wenn die hier so etwas haben. Ich bleibe nicht lange!“, erwiderte Lagrange steif.
„Wie Ihr meint. Ich nehme die Cassoulet und noch ein Bier. Jean-Marc?“
„Auch den Eintopf. Ich besorge alles“, sagte der nur und fing das Schankmädchen ab. Danach nahm er sich ebenfalls einen Stuhl, schob ihn etwas zurück und streckte seine langen Beine aus. Das sah lässig aus, brachte ihn aber auch in eine Position leicht hinter Lagrange, sodass dieser nicht einfach unvermutet flüchten konnte. Diese Sitzordnung hatten sie bereits zigfach erprobt. Ebenso, dass Michel zumeist die Fragen stellt und Jean-Marc von Zeit zu Zeit irritierende Anmerkungen oder eigene Fragen einwarf. Vorerst schwiegen sie, aber es dauerte nicht lange, bis das Schankmädchen ihnen zwei derbe Tonschalen, die der Cassoulet ihren Namen gaben, auf den Tisch stellte, Holzlöffel dazu legte und dann auch noch zwei großzügige Brotscheiben dazu legte.
Michel schob sich erst einmal einen vollen Löffel des dicken Bohneneintopfs in den Mund, kaute auf einem Wurststückchen und schloss genießerisch die Augen. „Ah, der ist wirklich gut hier! Ihr verpasst etwas, Chevalier!“, sagte er, als er den Mund wieder leer genug hatte.
„Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, Commissaire“, erwiderte Lagrange ungehalten. Michels Gemütlichkeit war eine Zermürbungstaktik, wie zwar Jean-Marc wusste, nicht jedoch der Chevalier. Jean-Marc verbrannte sich an der heißen Cassoulet die Zunge, weil es keine gute Idee war, gleichzeitig zu essen und sich ein Lachen zu verbeißen.
„Ich auch nicht. Chevalier. Was führte Euch am 10. Oktober zum Haus von Madame du Foix?“, kam Michel nun überraschend schnell zur Sache.
„Ich wollte meine Verlobte, Mademoiselle d’Argentcourt dort abholen. Sie war in schlechte Gesellschaft geraten, und ihr Vater war höchst besorgt. Ich erbot mich, sie nach Hause zu holen“, antwortete Lagrange und es klang für Jean-Marcs Ohren ein bisschen zu glatt, ein bisschen zu auswendig gelernt.
„Woher wusstet Ihr eigentlich, dass sie zu diesem Zeitpunkt dort sein würde?“, erkundigte Michel sich, während er erneut einen Löffel zum Mund führte. Ein Stückchen Speck rutschte herunter und landete wieder in der Schale.
„Wir wussten, dass sie bei dieser Tourville wohnt und es war nicht schwer etwas über deren Gewohnheiten herauszufinden“, antwortete Lagrange schwammig.
„Wir? Wer ist wir?“, fragte Jean-Marc von hinten. Lagranges Kopf fuhr herum.
„Aurelies Familie und ich“, sagte er nach einem winzigen Zögern.
„Ihr wusstet, dass dort ein Salon stattfinden würde? War das der geeignete Ort?“
„Diese verdammte Tourville hat ja zu verhindern gewusst, dass ich Aurelie bei ihr besuche und mit ihr reden kann!“. Aha, jetzt kamen sie der Wahrheit wohl langsam näher.
„Ihr hattet es also schon zuvor versucht?“, vergewisserte Michel sich. Seine Suppenschale war bereits gänzlich geleert und er wischte sie mit dem Brotstück aus, das er sich bis zum Schluss eigens zu diesem Zweck aufgehoben hatte. Wie konnte er das heiße Zeug so schnell essen, fragte sich Jean-Marc.
„Ja, allerdings!“, stieß Lagrange zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Demnach war Euch sehr daran gelegen, Eure Verlobte zurück zu bringen?“
„Aber natürlich!“, versetzte Lagrange ungeduldig.
„Habt Ihr sie geliebt?“ Diese Frage kam von Jean-Marc, fast zu leise, als dass man sie in dem lauten Schankraum hören konnte – aber Lagrange verstand ihn dennoch.
„Geliebt? Ich weiß nicht, wie das in den Kreisen ist, in denen Ihr verkehrt, Commissaire“, begann Lagrange und die Verachtung für Jean-Marc troff förmlich zwischen den Worten hervor, „aber zwischen den d’Argendcourts und mir wurde diese Ehe vereinbart, wie es sich bei Familien unseres Standes gehört. Und wenn es einmal vereinbart ist, hält man sich daran. Aurelie zurückzuholen gebot meine Ehre!“ Lagrange warf sich doch tatsächlich in die Brust!
„Aha“, machte Jean-Marc nur, was ihm einen vernichtenden Blick des Offiziers eintrug.
„Als Ihr im Haus der du Foix‘ eintraft – was genau ereignete sich dann?“, nahm Michel seinen Faden wieder auf, als hätte es Jean-Marcs Einwurf nicht gegeben. In einem Verhör pflegte Michel stets höflich aber gleichzeitig so beharrlich wie Wasser, das Steine aushöhlt zu sein.
„Ich wurde vom Hausdiener eingelassen, der meldete meinen Besuch und Madame du Foix war so freundlich, uns ein anderes Zimmer abseits des großen Salons zur Verfügung zu stellen, damit wir ungestört reden könnten. Allerdings bestand die Tourville darauf, zugegen zu sein, was sich als sehr unschön erwies.“
„Inwiefern?“, hakte Michel nach, als Lagrange in Schweigen verfiel.
„Nun, Mademoiselle Aurelie war durchaus geneigt, mir nach Hause zu folgen. Sie war geradezu erleichtert über mein Kommen, wie mir schien“, fuhr Lagrange nun lebhafter fort. „Aber die Tourville fuhr ständig dazwischen und stachelte das Mädchen immer wieder auf, sich zu widersetzen. Aber Mademoiselle Aurelie hat durchaus ihren eigenen Willen und begann, sich der Frau zu widersetzen. Als ich sie dabei unterstützte, wurde die Tourville geradezu aggressiv, wurde mir gegenüber sogar handgemein und schubste Aurelie recht grob auf das Sitzmöbel, das im Raum stand. Das arme Mädchen wusste gar nicht, wie ihm geschah!“
Jean-Marc hob im Hintergrund die Augenbrauen, sodass Michel es sehen konnte, Lagrange aber nicht.
„Und dann?“, fragte Michel erneut nach.
„Rief die Tourville den Hausdiener und ließ mich hinaus nötigen. Aurelie versuchte noch, mir zu folgen, aber ich glaube, die Tourville packte sie und hinderte sie daran. Danach musste ich das Haus verlassen und konnte nichts weiter für Mademoiselle tun.“
„Ich verstehe“, sagte Michel mit unbewegter Miene.
„War das nun alles? Kann ich endlich gehen?“, fragte Lagrange ungeduldig. Sein Wein stand noch unberührt auf dem Tisch.
„Ja, ich denke schon, Chevalier. Aber es wäre freundlich, wenn Ihr Euch nicht wieder verleugnen lassen würdet, wenn wir Euch noch einmal sprechen müssen. Wir möchten weder erneut einen Taschendieb noch Eure Vorgesetzten bemühen müssen“, sagte Jean-Marc aus dem Hintergrund, wobei er dabei fast so liebenswürdig klang, wie Michel.
„Vielleicht sollte ich mit EUREM Vorgesetzten über Eure seltsamen Methoden sprechen!“, gab Lagrange in einem vergeblichen Versuch, sein Gesicht zu wahren, zurück. Jean-Marc lächelte träge.
„Ihr wisst, wo Ihr den Lieutenant Géneràl finden könnt“, sagte er.
„Fühlt Euch nicht zu sicher! Ich habe einflussreiche Freunde!“ Lagrange stand mit Verve auf, rückte seinen Degen zurecht und wendete sich zum Gehen. Aber weil Jean-Marcs ausgestreckten Beine im Weg waren, musste er umständlich über sie hinwegsteigen, was seinem Abgang entschieden die Eleganz nahm. Mit so viel Würde wie möglich, verließ Lagrange die Schänke.
„Nun?“, fragte Michel, als Jean-Marc aufstand, sobald sich die Tür hinter Lagrange schloss.
„Er hat in weiten Teilen gelogen, würde ich sagen. Die interessante Frage ist, in welchen“, sagte Jean-Marc und stand zügig aber ohne Hast auf. „Eustache wartet draußen auf ihn?“ Michel nickte. Schließlich war es der einzige echte Sinn der Aktion gewesen herauszufinden, wohin der Chevalier nach dieser Befragung gehen würde. Nach Jean-Marc oder auch ihm selbst würde er jetzt wohl Ausschau halten. Eustache Petit, der Dritte in ihrem Bund, war ihm jedoch bislang unbekannt. Es war praktisch jedem unbekannt, dass es einen dritten Mann in ihrer Einheit gab und so sollte das nach Möglichkeit auch bleiben. Jean-Marc würde nun dafür sorgen, dass Lagrange ihn nach ein paar Minuten bemerkte, sich dann scheinbar von ihm abschütteln lassen, sodass der Chevalier sich in Sicherheit wähnte und dann hoffentlich dahin ging, wo es interessant wurde – unbemerkt verfolgt von Eustache Petit, einem Mann, der so unauffällig mit seiner Umgebung verschmelzen konnte, dass ihm angeblich sogar schon einmal ein Hund an die Beine gepinkelt hatte, weil er ihn mit einer Laterne verwechselt hatte. Aber das war natürlich nur eine Geschichte.
Doch es wurde wirklich Zeit, dass sie in dem Fall weiterkamen. Die Wahrscheinlichkeit, Annette de Tourville noch lebend zu finden, schrumpfte von Tag zu Tag. Wenn es denn je eine gegeben hatte.

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