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Pays d’Auge, April 1729

 

Ostern, das in diesem Jahr früh lag, ging vorüber und mit dem April wurde es endgültig Frühling. Die Wiesen trockneten ab, die Sonne wärmte Menschen und Tieren die Knochen und im Pays d’Auge entfaltete sich das alljährliche Wunder der Apfelblüte. Je nach Sorte eine Woche früher oder später platzten die dicken Knospen auf. In einer zarten Pracht aus weiß und rosa mit gelbem Stempel legte jeder Baum sein Hochzeitskleid aus unzähligen Blüten an. Tausende von Bienen folgten der Einladung, so dass die Apfelwiesen von früh bis spät summten. Ein zarter Duft lag in der Luft und ließ die langen Wintermonate vergessen.

Bon Vivant war inzwischen ein recht manierliches Reitpferd geworden. Philippe tummelte ihn abwechselnd in Zirkeln auf der Reitbahn, um seinen Körper geschmeidig zu machen, oder in kräftigenden Ausritten über die Ländereien des Falabraque’schen Anwesens. Ein Jagdpferd musste gut bei Atem sein und kräftige Muskeln haben, um auch eine längere Hatz auf Hirsch oder Keiler durchzuhalten. Nebenbei liebten Junge und Pferd diese Ausritte gleichermaßen. Gerade kamen sie wieder von einem zurück, beide verschwitzt, staubig und zerzaust, aber mit leuchtenden Augen. Guillaume packte den Zügel des jungen Hengstes, um Philippe das Absteigen zu erleichtern.

„Da wart ihr ja wieder lange unterwegs“, brummte er, aber sein Blick lag wohlgefällig auf den beiden starken jungen Geschöpfen.

„Ja, er ermüdet kaum noch und ist begierig aufs Laufen. Am liebsten würde er nur galoppieren, aber ich bestehe auch auf dem Trab, so wie du es mir beigebracht hast“, berichtete Philippe. „Es ist so traurig, dass unser prächtiger alter Godolphin jetzt doch gestorben ist. Er hat wirklich wundervolle Fohlen mit unseren Stuten gemacht, nicht wahr?“ Philippe redete von dem englischen Vollbluthengst, den sein Vater vor fünf Jahren erworben und dann so erfolgreich mit den spanischen und französischen Stuten des Gutes verpaart hatte. Aber Der Hengst hatte vor zwei Wochen leider eines Morgens tot in seiner Box gelegen. „Da hat wohl einfach das alte Herz nicht mehr schlagen wollen“, hatte Guillaume traurig gemeint. Zu Philippes Worten nickte er denn auch betrübt.

„Ja, ein Jammer.“

Um keine Trübsal aufkommen zu lassen, fragte Philippe gleich darauf eifrig: „Meinst du, ich sollte jetzt beginnen, Bon Vivant darin zu schulen, über Baumstämme und Gräben zu setzen?“

„Ja, er ist soweit. Aber lass uns das bei den ersten Malen gemeinsam tun. Man weiß nie, was passiert“, sagte der alte Stallmeister. „Gib mir den Hengst, ich wasche ihn ab und bringe ihn hernach auf die Koppel. Du bist spät dran“, mahnte er dann. Wie um seine Worte zu unterstreichen schlug die Uhr auf dem kleinen Portaltürmchen zweimal zur halben Stunde.

„Oh weh, ist es etwa schon halb elf?“, fragte Philippe erschrocken. Guillaume nickte. „Ach du liebe Zeit, ich müsste jetzt bereits bei Monsieur de Falaise zur Fechtstunde sein. Salut, Guillaume!“, rief Philippe und rannte los.

Es war unnötig, sich umzuziehen, aber seinen Degen musste er natürlich erst noch holen. Philippe stürmte durch die Stiefelkammer und über die Hintertreppe nach oben. So schmutzig wollte er die Haupttreppe nicht benutzen und außerdem möglichst keinem seiner Familienmitglieder über den Weg laufen. Gerade wollte er im oberen Stockwerk die Tür zum Flur der Schlafgemächer öffnen, als er Stimmen dahinter hörte. Verflixt!! Das klang nach seinem Vater. Er würde einen Moment warten – es kam ohnehin nicht mehr darauf an, er würde in jedem Fall zu spät zur Fechtstunde kommen.

„Arien! Hast du einen Augenblick Zeit für mich?“, erklang etwas gedämpft die Stimme seiner Mutter, die dem Klang nach in der Tür zu ihren eigenen Gemächern ganz hinten im Flur stand.

„Ja, natürlich“, antwortete sein Vater liebenswürdig und so nah, dass klar war: Er hatte genau vor der Tür zur Gesindetreppe angehalten.

„Wir müssen über die Reise nach Paris im Herbst reden.  Du weißt, dass Catherine allmählich mal wieder einen Winter dort verbringen muss, um in der Gesellschaft präsentiert zu werden. Sie ist jetzt bereits siebzehn.“

„Es ist doch erst April“, sagte Arien mit jenem Hauch Ungeduld in der Stimme, der auf ein schlechtes Gewissen schließen ließ.

„Nun, wenn wir fahren, wäre es gut, dies frühzeitig zu wissen, denn Kleider für die Ballsaison schneidern sich nicht von heute auf morgen. Und wo werden wir wohnen? Nicolas‘ Appartement dürfte ja deutlich zu klein sein. Aber vielleicht können wir etwas mit der Familie deiner werten Cousine teilen und so die Kosten gering halten?“ Constanza sprach in weichem Ton, denn sie wusste, dass das ganze Thema etwas heikel war, insbesondere alles, was mit Nicolas zu tun hatte. Beim letzten Besuch des Erben von Titel, Grafschaft und Besitz waren recht laute Worte durch die Tür des Studierzimmers gedrungen. Arien hatte anschließend nicht darüber sprechen wollen, aber Nicolas war gleich am nächsten Morgen grußlos abgereist. Das war im vergangenen Herbst gewesen.

„Bei Madeleine anzufragen ist eine gute Idee. Aber wenn sich das nicht anbieten sollte, muss Nicolas für die Dauer unseres Aufenthalts eben in einem Schlafsaal der Sorbonne wohnen und uns das Appartement überlassen“, sagte Arien ungewöhnlich heftig. Philippe hörte selbst hinter der Tür, dass sein Vater schneller atmete.

„Dann ist es ja gut. Ich war mir nicht sicher, da wir ja nun zwei Winter nicht in Paris verbracht haben. Vielleicht hat Nicolas inzwischen anderweitig disponiert.“ Constanza versuchte beschwichtigend zu klingen.

„Über die Belange der Familie Falabraque entscheide immer noch ich, nicht Nicolas“, grollte Arien. „Aber, du lieber Himmel, das wird ja noch ein bisschen Zeit haben! Catherine ist erst siebzehn und soll endlich aufhören, sich da in etwas reinzusteigern. Es herrschte hier bisher kein Mangel an jungen Männern, die ihr ihre Aufwartung gemacht haben. Bislang musste sie allerdings ja alle vor den Kopf stoßen.“ Arien hatte ganz deutlich keine Lust auf dieses Thema.

Constanza war eine kluge und erfahrene Gattin.

„Du selbst willst nur den Allerbesten für sie, mein Lieber, da bin ich sicher. Und du musst zugeben, dass es nicht sehr passend wäre, wenn Catherine ihrem zukünftigen Ehegatten an Intelligenz allzu weit überlegen wäre“, sagte sie sanft.

Unvermittelt lachte Arien. „Ach, weißt du, die einzige Klugheit, die ein Mann in diesem Falle besitzen muss, ist, sich über die Klugheit seiner Frau zu freuen.“ Stoff raschelte und Philippe nahm an, dass sein Vater seine Mutter umarmte, nachdem er ihr dieses wunderschöne Kompliment gemacht hatte. Ob sie sich küssten? Es rührte ihn, dass sie sich offensichtlich immer noch liebten. Aber alle sagten ja auch immer, dass es eine Liebesheirat gewesen sei.

„Also gut, wenn über den Sommer nicht irgendwelche Katastrophen aufziehen, der Mehltau in alle Apfelbäume fährt oder ein Bauernaufstand droht, dann fahren wir im Herbst nach Paris und verbringen den Winter dort. Und unsere wunderschöne und etwas zu gescheite Tochter kann in allen Salons von Paris nach dem klügsten Mann Ausschau halten.“

„Oh, das ist wundervoll, Arien! Es wird uns allen guttun, uns einmal wieder unter unseresgleichen zu mischen. Charles wird es genießen, die Bibliothèque National de France in Reichweite zu haben, Catherine kann an praktisch jedem Tag junge Leute ihres Alters und Standes treffen, und Philippe wird es auch mal ganz gut tun, nicht nur an Pferde zu denken und an seinen Manieren zu arbeiten.“

Philippe hielt hinter der Tür die Luft an, um seinem spontanen inneren Widerstand gegen diese Pläne nicht laut Ausdruck zu verleihen. Was um Himmels Willen sollte er einen ganzen Winter in Paris machen? Höfische Manieren aufpolieren? Wozu denn das? Er hatte keinerlei Interesse am Hofleben. Nicolas würde den Titel und die Grafschaft erben und konnte das ganze repräsentative Zeugs gern dazu haben. Philippe würde Pferde züchten und Äpfel anbauen und Eau de Vie dy Sydre brennen und dafür brauchte er keine höfische Referenz.

„Das wird ihm nicht gefallen, schätze ich“, sagte sein Vater denn auch ganz richtig.

„Wir müssen alle hin und wieder Dinge tun, die uns nicht gefallen. Besser, er lernt das beizeiten“, erwiderte seine Mutter mit ungewohnter Strenge. Dann aber lachte sie leise. „Wir müssen ihm nur von den berühmten Reitakademien in Paris erzählen, dann wird er sofort mitkommen wollen.“

Reitakademien? Oh ja, natürlich! Es gab die Manége in den Tuilerien und mehrere private Reitakademien in der Stadt, soweit Philippe wusste. Nun, das wäre immerhin ein Lichtblick.

„Wir reden dieser Tage noch einmal darüber, meine Liebe. Ich muss mich auf eine Unterredung mit unserem Verwalter Karlmann vorbereiten. Wenn du mich also nun entschuldigen würdest?“

„Natürlich. Und ich danke dir sehr!“, sagte Constanza mit Wärme in der Stimme. Philippe hörte, wie seine beiden Eltern sich in verschiedene Richtungen zu entfernen begannen. Endlich wagte er wieder durchzuatmen. Gerade als er die Hand an den Türknauf legte, hielten die Schritte seiner Mutter inne.

„Arien!“, rief sie.

Auch sein Vater hielt an. „Was gibt es noch?“

„Du siehst sehr angestrengt aus in den letzten Wochen. Und blass. Und ich habe gesehen, dass du manchmal das Gesicht verziehst, als hättest du Schmerzen. Ist dir nicht wohl?“

Sein Vater zögerte einen Moment, ehe er antwortete. „Es ist nichts. Ich bin einfach nicht mehr so jung, wie ich mal war. Und ja, es gab viel zu bedenken und zu tun im ganzen vergangenen Jahr. Aber mir geht es gut, mach dir keine Sorgen!“ Er gab seiner Stimme einen souveränen, beruhigenden Klang – doch nicht einmal Philippe war überzeugt. Und seine Mutter erst recht nicht, wie es schien.

„Du solltest es unbedingt langsamer angehen lassen. Überlass Monsieur Karlmann mehr Aufgaben. Dafür ist er doch da. Und vielleicht sollte dich bei Gelegenheit der Arzt einmal untersuchen?“

„Wenn ich etwas gerade nicht brauche, ist es ein Aderlass!“, schnaubte Arien. „Du weißt, was ich davon halte! Und wenn ich mich recht erinnere, bist du auch keine große Freundin dieser Rosskur. Aber das wird alles sein, was Monsieur le Docteur als Behandlung anbieten wird. Nein, nein, glaub mir, es ist alles in Ordnung.“

 

 

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