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Guten Morgen, Monsieur Lieutenant Général

 Fortsetzung des Kapitels „Im Appendix“

Hektik und Aktivität der letzten Minuten verebbten und hinterließen grenzenlose Erschöpfung. Catherine versuchte, sich selbst anzutreiben. Sollte nicht irgendwer Malpart verfolgen? Aber sie rührte sich nicht. Keiner tat es. Catherine gab innerlich nach. Ihre Energien waren aufgebraucht, ihr schwindelte ein wenig. Sie konnte nur dastehen und sich mit einem Gefühl von Taubheit umblicken. Hugo stöhnte. Sein letzter Sturz war hart gewesen. Er blutete an der Hand und am Kinn, sein Haar war zerzaust, seine Kleidung ramponiert. Merkwürdig jung sah er so aus, ging es Catherine durch den Sinn. Ihr Blick wanderte weiter zu Jean-Marc. Der saß jetzt aufrecht, schien wieder Luft zu bekommen und seine Gesichtsfarbe normalisierte sich allmählich. Er war ähnlich zerrupft wie Hugo, aber bei ihm erschien das Catherine weit weniger befremdlich. Sie hatte ihn schon öfter so gesehen.
Dann streiften ihre wandernden Augen die Gestalt von d’Argencourt. Er war tot. Mit aufgerissenen Augen lag er etwa einen Meter von dem Platz entfernt, wo er zuvor angeschossen worden war. Außerdem prangte jetzt ein Loch in seiner Stirn. Irgendeiner der wilden Schüsse musste ihn getroffen haben – Catherine nahm an, dass es Malparts gewesen war. Nun, es war ganz sicher nicht schade um den Baron. In seiner Hand lag noch immer ein Stück Papier, das ich wichtig gewesen zu sein schien.
Endlich gelangte sie bei ihrer Betrachtung zu Annette. Die war gerade dabei, mit dem Schlüssel, den Hugo bei ihr hatte fallenlassen, die zweite Handschelle zu öffnen. Aber das Schloss hakte und ihre Kraft reichte nicht, ihn herumzudrehen. Für einen Moment hielt Annette ermattet inne. Das setzte Catherine endlich in Bewegung.
„Warte, ich helfe dir!“, sagte sie und nahm wahr, wie kratzig ihre Stimme klang. Zu viel Geschrei. Sie ging zu ihrer Freundin, nahm ihr den Schlüssel aus der Hand, steckte ihn in das widerspenstige Schloss, und mit etwas Kraftaufwand ließ es sich endlich öffnen. Die schwere Eisenschelle fiel auf den Boden. Dumpf starrte Annette darauf.
„Danke“, sagte sie zu Catherine und das eine Wort schloss sehr viel mehr ein, als nur die Hilfe bei Öffnen des Schlosses. Catherine nickte nur, hockte sich neben sie und strich ihr eine filzige Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Wir bringen dich hier raus und gehen nach Hause“, sagte sie. Aber noch bewegte sie sich nicht. Niemand bewegte sich, niemand sprach. Tripp. Tripp. Tripp. Zum ersten Mal hörte Catherine, wie das Wasser von der Wand tropfte.
„Ich glaube, das Unterhaltungsprogramm hätte mich wahnsinnig gemacht“, sagte sie und ruckte kurz mit dem Kinn in die Richtung des Rinnsals. Annette sah sie an, dann lachte sie heiser.
„Eine Komposition von Antonia Padoani Bembo ist es nicht gerade, aber man sollte auch stets der Bemühung Anerkennung widmen, nicht wahr?“

Annette war viel zu schwach, um auf ihren eigenen Füßen den ganzen Weg aus den Tunneln heraus und bis zum Wagen zu gehen. Aber als Jean-Marc und Hugo sich genügend erholt hatten, verschränkten sie die Arme und setzten Annette hinein. Sie kamen jedoch nur bis zur ersten Wegbiegung – hier verengte sich der Gang auf Mannsbreite und weder längs noch quer kamen sie mit ihrer improvisierten Trage hindurch.
„Verdammt, wie hat d’Argencourt das bloß angestellt?“, knurrte Hugo, während sie Annette so sanft wie möglich absetzten. Er erwähnte nicht, dass ihm bereits nach diesen paar Metern Arme und Schultern wehtaten.
„Er, oder vielmehr der fragliche Mohr, dürften Madame de Tourville einfach wie einen Sack über die Schulter geworfen haben. Sie war ja bewusstlos und so kann es auch an den engeren Stellen gegangen sein. Ich fürchte aber, Madame wird das in wachem Zustand gar zu unbequem finden“, sagte Jean-Marc und rieb sich nachdenklich über den Unterarm.
„Jesusmaria!“, rief Catherine unvermittelt aus. „Das Mädchen! Wo ist eigentlich Puce?“
„Ich weiß nicht, ob sie Puce heißt, aber ich bin vorhin über ein sehr dünnes Mädchen gestolpert“, antwortete Jean-Marc leicht zerstreut. Er dachte über das Problem nach, wie sie Annette de Tourville hier herausbringen könnten und gleichzeitig grübelte er, ob der fliehende Malpart wohl erneut auf Eustache stoßen würde – und mit welchem Ergebnis.
„Sehr dünn? Diese Beschreibung passt! Was heißt ‚über sie gestolpert‘? Mein Gott, ist sie etwa tot?“, fragte Catherine drängend. Ihr schlechtes Gewissen darüber, das Straßenkind vollkommen vergessen zu haben, fuhr ihr heiß in den Bauch.
„Nein, sie war bewusstlos. Ich nehme an, dass Malpart sie niedergeschlagen hat und keine weitere Zeit an sie verschwenden wollte. Sie liegt ein paar Ecken weiter und ich schätze, inzwischen dürfte sie wieder zu sich gekommen sein. Ich hatte leider auch keine Zeit, mich um sie zu kümmern, weil da die ersten Schüsse fielen“, erklärte Jean-Marc.
„Dann war es wirklich das Mädchen, das zu euch gekommen ist?“, fragte Annette vom Boden aus. „Sie war meine einzige Hoffnung und gleichzeitig verbot ich mir, mein ganzes Vertrauen auf sie zu setzen. Sie war so scheu.“
„Sie hat wohl auch fast zwei Tage gebraucht, um sich zu unserem Haus zu trauen. Dann hat Elian sie unter vollem Körpereinsatz gestellt, weil er glaubte, erneut einen Mohren im Rosenbeet zu sehen“, erzählte Catherine. Annette blinzelte. Mohr im Rosenbett? Wovon redete Catherine? Aber Annette nickte trotzdem einfach, um ihre Kräfte zu sparen.
„Ich glaube, ich könnte an den engsten Stellen mit ein bisschen Unterstützung vielleicht ein paar Meter laufen“, sagte sie stattdessen und versuchte, sich zu straffen. Catherine und die Männer guckten zwar zweifelnd, aber letztlich hatten sie keine andere Wahl, als es zu versuchen.
„Seid Ihr bereit, Madame de Tourville?“

„Er ist dorthin gelaufen!“ Ganz unvermittelt trat Puce aus einem verborgenen Nebengang hervor und deutete den Hauptgang hinunter. Alle zuckten leicht zusammen.
„Puce! Du bist unversehrt!“, rief Catherine erleichtert aus. Nun ja, ‚unversehrt‘ traf es wohl nicht ganz, denn das Mädchen blutete aus einem Ohr und ein Auge schwoll bereits zu. Aber immerhin stand sie auf ihren eigenen Beinen und schien auch wieder ganz Herrin ihrer Sinne zu sein.
„Als er zurückkam, habe ich mich in der Nische hier versteckt. Er hatte es zu eilig, um mich zu bemerken. Aber ich war nicht sicher, ob er dich nicht zuvor erschossen hatte“, erklärte Puce und sah Annette dabei an. „Ich habe deine Leute hergeholt. Bekomme ich jetzt meine Belohnung?“ Puce hielt dabei Abstand zu Hugo und Jean-Marc. ‚Scheu‘, traf es wirklich.
„Aber natürlich bekommst du deine Belohnung!“, sagte Annette mit so viel Kraft in der Stimme, wie sie aufbringen konnte. „Du bekommst alles, was ich dir versprochen habe und noch viel mehr! Aber natürlich müssen wir erst hier heraus sein.“
Puce sah nicht sehr zufrieden aus. Wie es schien, verzögerte sich der Zeitpunkt, wo sie endlich wieder untertauchen konnte, immer noch ein bisschen mehr. Catherine schaltete sich ein.
„Puce, wenn du uns auf einem möglichst leicht gangbaren Weg hier rausführst, nehmen wir dich in der Kutsche wieder mit zurück, und dann bekommst du sofort die Belohnung, die dir Madame versprochen hat und noch 10 Sous obendrauf, weil du so viel Mühe und Plage mit uns hattest!“, versprach sie. Hugo nickte bekräftigend, und Annette lächelte so gewinnend wir möglich. Puce bekam kugelrunde Augen. Im ganzen Leben hatte sie noch nicht so viel Geld gesehen, wie man ihr da in Aussicht stellte. Sie konnte nicht einmal so weit rechnen!
„Wir müssen auch da lang!“, sagte sie dann entschlossen und wies in dieselbe Richtung wie zuvor.

Humpelnde Rückkehr

Eustache konnte sich nicht erinnern, sich schon einmal je so miserabel gefühlt zu haben. Dauernd wurde ihm schwindelig und damit auch schlecht. Noch zweimal hatte er sich übergeben müssen und nun einen brennenden Durst, den er nicht löschen konnte. Sein rechter Arm tat erbärmlich weh. Inzwischen verstand Eustache gar nicht mehr, wie er überhaupt diesen verdammten Brunnenschacht hatte hochklettern können, war aber immerhin für dieses Detail dankbar. Mehrfach hatte er sich schon selbst zu ermuntern versucht, sich endlich auf den Weg zum Ausgang zu machen, aber bislang machte sich sein Körper der Insubordination schuldig. Gerade als Eustache glaubte, endlich doch losgehen zu können, hörte er, Schritte. Sehr schnelle Schritte. Irgendwas zwischen Gehen und Rennen. Eustache sah sich hektisch um, was den Kopfschmerz erneut explodieren ließ. Aber dieses Mal siegte der Überlebenswille. Statt sich erneut in einem Schwindelanfall zu erbrechen, spürte er Hitze durch seinen Körper jagen. Er erblickte ein einigermaßen dickes Brett, das zur Brunnenwinde gehört haben musste, ergriff es und postierte sich damit direkt neben dem Zugang, aus dem er die Schritte hörte. Gleich da! Kurz schoss Eustache durch den Kopf, dass es vielleicht auch Jean-Marc sein konnte, der da angerannt kam – aber er verwarf den Gedanken wieder. Irgendwie hörte sich das einfach nicht nach seinem Kollegen an.
Dann war der Läufer heran und Eustache schlug zu, so fest er das mit einem Arm nur vermochte. Die heftige Bewegung und die harte Kollision mit dem Kopf des Getroffenen schickte ihm eruptiven Schmerz durch Kopf und Schulter, der in einer Schockwelle durch seinen gesamten Leib lief und Eustache animalisch aufschreien ließ – aber sein Gegner ging zu Boden als hätte ihn ein strafender Blitz Gottes getroffen! Als bei Eustache der Schmerz so weit abebbte, dass er wieder klar sehen konnte, betrachtete er sein Opfer mit Genugtuung.
„Ich hoffe, Ihr wacht irgendwann wieder auf und habt dann ebensolche Kopfschmerzen wie ich, Insepcteur Malpart!“, sagte Eustache im Konversationston. „Und ich hoffe, Ihr kotzt Euch dann genauso die Seele aus dem Leib!“

„Das Ende einer heldenhaften Rettungsaktion habe ich mir immer etwas glorreicher vorgestellt“, stöhnte Catherine.
„Hilf mir, Annette abzusetzen“, stieß Jean-Marc zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er hatte Annette zuletzt huckepack getragen, denn anders war die lange, spiralförmige Treppe nach oben nicht zu bewältigen gewesen. Die hing wie ein Sack auf seinem Rücken und klammerte sich mit allerletzter Kraft an seinem Hals fest. Catherine und Hugo nahmen sie ihm ab und ließen sie sanft auf den Boden gleiten. Es war einerlei, dass der schmutzig und feucht war – dreckiger als sie waren, konnten sie kaum noch werden. Catherine ließ ihren Blick über die den humpelnden, erschöpften Haufen gleiten: Annette, entsetzlich dünn, notdürftig mit Hugos Jacke bedeckt, kauerte mit geschlossenen Augen am Boden und zitterte leicht. Es war kalt hier oben. Catherine hoffte, dass sich die Freundin bei guter Pflege, reichhaltiger Nahrung und Bettruhe bald erholen würde. Jean-Marc, ausgepumpt von den Anstrengungen einer sehr langen Nacht, zerzaust aber ansonsten unbeschadet. Dasselbe galt für Hugo, sah man von ein paar Kratzern und vollkommen derangierter Garderobe ab. Eustache, den Arm in einer Schlinge, die sie notdürftig aus Catherines Halstuch gebastelt hatten. Ab und zu schwankte er und verzog das Gesicht, wenn eine neue Kopfschmerzwelle ihn attackierte. Was für ein komischer Vogel! Aber er hatte Malpart erwischt, der jetzt angekettet an die oberste Krampe des Brunnenschachtes seines Schicksals harrte. Als sie ihn verließen, hatte er noch gelebt, war aber kaum bei Sinnen gewesen. Schließlich war da noch Puce, das Straßenmädchen, ebenfalls blass und müde, ohne die es keine Rettung Annettes gegeben hätte. Und sie selbst? Vermutlich sah sie aus, wie eine Vogelscheuche! Die Gäste ihres Salons wären schockiert!
„Es hat aufgehört zu regnen“, bemerkte Jean-Marc.
„In der Tat“, pflichtete Eustache ihm bei.
„Aber es ist schrecklich kalt“, ergänzte Catherine. Sie sahen sich an und lachten kurz. Als gäbe es nichts Dringenderes, als über das Wetter zu reden.
„Dann sollten wir wohl zusehen, dass wir alle nach Hause kommen. Ich habe allerdings keine Ahnung, wie wir von hier aus zu unserer Kutsche gelangen“, sprach Hugo das wirklich dringliche Problem mit düsterer Miene an. Catherine wollte gerade erneut Puce um Hilfe bitten, als sie bemerkte, dass das Mädchen so angespannt dastand wie ein Pferd kurz bevor es scheut und durchgeht. Es blähte sogar die Nasenflügel auf gleiche Art!
„Puce, was ist…?“, fragte sie, wurde aber von Jean-Marc unterbrochen.
„Da kommen Leute. Reiter. Viele davon“, sagte er knapp und spähte wachsam nach draußen. Jetzt sah Catherine es auch: eine ganze Schar flackernder Lichtpunkte waberte draußen durch die Dunkelheit. Sie hörte das Klappern beschlagener Pferdehufe auf Steinpflaster, sowie Schnauben, Klingeln von Kandarenringen und Klirren anderer Metallgegenstände und dann auch das Knarren von feuchtem Leder und das Husten einzelner Menschen. Sie merkte, dass sie die Muskeln spannte. Freund oder Feind, war die Frage.
„Das hört sich nach einem ganzen Regiment an“, sagte Jean-Marc erstaunt. Puce zappelte auf der Stelle, hin- und hergerissen zwischen ihrem jahrelang kultivierten Instinkt, sich verborgen zu halten und der Gier nach der unvorstellbar hohen Belohnung. Letztlich siegte, dass sie zu erschöpft zum Fliehen war.
Das Hufgeklapper hörte weitgehend auf. Die Reiterschar hatte zehn Längen vor dem Vorbau angehalten.
„Lasst Eure Männer Aufstellung beziehen“, hörten sie eine kultivierte Stimme draußen sagen.
„Ganze Abteilung Halt!“, entsprach sofort eine Stimme, die gewohnt war, Exerzierplätze zu füllen. „Musketen bereithalten!“
„Wartet erstmal!“, befahl Jean-Marc leise. „Ich regele das.“ Die anderen hatten nichts dagegen. Sie hatten zwar keine Ahnung, was eine Abteilung Kavallerie um diese Stunde in dieser Gegend machte, aber vermutlich machte es alles nochmal kompliziert. Und dafür fehlten ihnen die Kräfte.
„Nicht schießen!“, war das erste, was Jean-Marc laut und deutlich rief, ehe er sich dem Ausgang näherte. „Ich bin Commissaire Jean-Marc Liévre und ich komme jetzt heraus.“ Stattdessen wartete er jedoch noch drei Herzschläge lang und tatsächlich schien der Kommandant da draußen einen Moment der Verblüffung überwinden zu müssen.
„Kommt mit erhobenen Händen!“, befahl die kräftige Stimme dann. Jean-Marc nahm die Hände über Kopfhöhe und ging langsam hinaus. Catherine konnte nicht anders: Sie schob sich ein Stück nach vorn, um besser sehen zu können. Ihr Herz klopfte schon wieder bis zum Hals. Wer waren die da draußen? War Jean-Marc in Gefahr? Sie konnte im Schein dutzender rußender Fackeln erkennen, dass da mindestens 25 bewaffnete Reiter in der Uniform der Archers du guet aufmarschiert waren, vor denen zwei weitere einzelne Reiter standen. Der eine, der mit der kultivierten Stimme, winkte einem der Fackelträger.
„Beleuchtet den Mann!“, befahl er. Und als der Lichtschein auf Jean-Marc fiel: „Liévre! Welch angenehme Überraschung. Wie schön zu sehen, dass die Gelder des Königs für meine Sondereinheit nicht verschwendet sind. Bericht!“
„Guten Morgen, Monsieur Lieutenant Général!“ sagte Jean-Marc höflich und deutete eine Verneigung an. „Darf ich zuvor die Hände herunternehmen?“

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