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Heimkehr mit aufgeschlagenen Knien

 14. Oktober, sehr früh am Morgen

„Eigentlich wäre ja ein heißes Bad für uns alle angebracht – aber bis wir jetzt die Dienerschaft mobilisiert haben, der Küchenherd angeheizt ist und alles bereit sein kann, werde ich längst eingeschlafen sein. Ich bin so müde, dass ich es gerade noch bis ins Bett schaffe“, seufzte Catherine, als der Einspänner die letzten Meter zum Haus in der Rue Saint Antoine zurücklegte. Annette lag halb auf ihrem Schoß und schlief, Puce quetschte sich in eine Ecke, fror und sah noch immer fluchtbereit aus. Hugo lenkte den Braunen zum Tor der Kutscheinfahrt.
„Warum ist das Tor offen? Und hinter den Fenstern brennt Licht!“, bemerkte er. Schlagartig verging Catherine die Schläfrigkeit.
„Die Kinder! Elian hat was angestellt!“, rief sie ahnungsvoll. Sie versuchte, Annette soweit von sich zu schieben, dass diese aufrecht sitzen konnte. Annette wachte dabei halbwegs auf.
„Was?“, fragte sie schlaftrunken.
„Wir sind bei uns zu Hause, Liebes. Aber irgendwas stimmt nicht. Kannst du kurz allein…?“ Catherine wartete weder ab, bis Annette antworten konnte, noch, bis der Einspänner vollständig stand, ehe sie bereits hinaussprang und zur Tür eilte. Die war nicht verschlossen, wie es zu dieser nachtschlafenden Zeit eigentlich hätte sein sollen.
„…. jetzt halte still, Junge, damit ich das säubern kann. Da sind lauter kleine Steinchen drin!“, hörte sie die Stimme der Köchin durch den kurzen Flur, der zum Wirtschaftsteil des Hauses führte.
„Aua! Aua, das tut weh!“, jammerte Elian, sodass man meinen konnte, jemand versuche, ihm das Bein zu amputieren. Catherine lief noch schneller. Verflixt! Sie hatte doch gewusst, dass es irgendwas mit ihrem Sohn zu tun haben musste, wenn das Haus um zwei Uhr morgens in heller Aufruhr war. Catherine beschleunigte ihre Schritte, obwohl sie noch vor wenigen Augenblicken geschworen hätte, sich nur noch kriechend vorwärts bewegen zu können, und platzte wie ein Racheengel in die Küche.
„Was ist hier los?“, fragte sie und starrte auf das Bild, das sich ihr bot.
„Maman!“ Constance hockte auf einem Schemel am Küchentisch, vor sich eine Tasse mit heißer Milch. Sie sah nass, erschöpft und gleichzeitig sehr wach aus, schien aber heil und gesund zu sein. Ihr Ausruf war ungewöhnlich freudig gewesen.
„Maman!“ Elian saß auf einem Stuhl, der zu hoch für ihn war, so dass seine Beine in der Luft baumelten. Seine Culottes waren schmutzig und an einer Seite so aufgerissen, dass man sein aufgestoßenes, blutiges Knie sah. Die Köchin hockte davor und versuchte wohl gerade, die Wunde mit einem feuchten Tuch zu säubern. Elians Ausruf hatte weit weniger freudig geklungen als der seiner Schwester. Vielmehr schien er zu befürchten, gleich eine Standpauke zu bekommen. ‚Vermutlich hast du Recht, mein Freund!‘, dachte Catherine grimmig.
„Madame!“ Dieser Ausruf kam wiederum von der Köchin, der Dienstmagd, dem Hausdiener Thomas und dem Laufburschen Claude, die allesamt anwesend waren. Claude und Thomas sahen aus, als hätten sie ebenfalls einen erheblichen Teil dieser Nacht im Freien verbracht. Catherine ging mit drei raschen Schritten zu ihrem Sohn und begutachtete sein Knie.
„Wie ist das passiert?“, fragte sie ihn direkt und nahm dabei der Köchin kurzerhand die Schale, die offensichtlich warmen Wein enthielt, sowie das Tuch aus der Hand. „Halt still!“, wies sie ihn an, als er wegzappeln wollte.
„Das tut aber weh. Aua!“, jammerte Elian erneut.
„Ich bin sicher, dass du dir das allein selbst zuzuschreiben hast. Beiß die Zähne zusammen und halt still. Es dauerte ja nur einem Moment!“
„Oh Madame, es tut uns so leid!“, klagte jetzt auch die Köchin. „Die Mademoiselle hatte wohl einen Schlüssel, und so haben sie sich aus dem Zimmer geschlichen und davon gemacht. Claude hat sie aber zum Glück gefunden und nach Hause gebracht, der gute Junge!“ Oh weh! Wenn die Köchin ein gutes Haar an dem Laufburschen ließ, musste sie eine wahrhaft aufreibende Nacht hinter sich haben!
„Claude, wir helfen Monsieur mit dem Pferd und allem“, murmelte Thomas, ebenfalls ungewöhnlich zurückgenommen. „Konntet Ihr Madame de Tourville finden und befreien, Madame?“, erkundigte er sich jedoch noch, als er schon halb hinaus war.
„Ja, das konnten wir. Und Hilfe ist draußen von Nöten. Madame de Tourville wohnt zunächst bei uns. Francine, steh nicht herum, richte das Gästezimmer und bringe heißes Wasser, Waschschüssel und so weiter nach oben! Und wenn du herunterkommst, bring das Nachtgewand von Monsieur Elian mit“, befahl Catherine dem Hausmädchen. „Und vielleicht können wir etwas heiße Brühe bekommen.“ Das galt der Köchin. Alle waren heilfroh, etwas zu tun zu bekommen und im Nu sahen sich Elian und Constance allein mit ihrer Mutter.
„Also? Ich warte immer noch auf deine Antwort, Elian: wie ist das passiert?“
„Constance ist schuld!“, antwortete Elian prompt. „Sie hatte die Idee und auch den Schlüssel. Sie hat…“
„Du gemeine Petze! Du fandest alles großartig und hast uns dann vollkommen in die Irre geführt, obwohl du so geprahlt hast, du wüsstest wo wir hinmüssen!“, begehrte Constance sofort auf.
„Aber du…“
„Schluss damit, alle beide!“, donnerte Constance. „Ihr werdet ohnehin beide bestraft. Es ist also zwecklos, wenn ihr euch gegenseitig die Schuld zuschiebt. Ich will jetzt nur noch einen präzisen und wahrheitsgemäßen Bericht hören, ansonsten lege ich euch höchst eigenhändig hier und jetzt übers Knie!“ Es waren weniger die Worte als der Nachdruck, mit dem Catherine sie sagte, der ihre Kinder großäugig verstummen ließ. Ihre Maman sah wahrlich ein bisschen zum Fürchten aus, wie sie da schmutzig und zerkratzt vor Elian stand, als käme sie direkt von einem Schlachtfeld.
„Letzter Versuch: Was habt ihr in unserer Abwesenheit angestellt. Constance, erzähl du es!“ Sie warf einen letzten kritischen Blick auf Elians Knie, befand es für sauber und begann, den Leinenstreifen darum zu wickeln, den die Köchin schon bereitgelegt hatte.
„Wir wollten nur helfen, Madame de Tourville zu suchen“, verteidigte sich Constance kleinlaut. Und als sie nichts als einen unnachgiebigen Blick von ihrer Mutter erntete, erzählte sie hastig weiter: „Ja, ich hatte einen Schlüssel für unser Zimmer. Und nachdem uns Thomas eingeschlossen hatte, haben wir noch eine halbe Stunde gewartet. Dann habe ich aufgeschlossen und wir haben uns davongeschlichen, als die Dienerschaft bei ihrem Abendessen saß. Die Haustür war nicht verschlossen…“ Erneut ein strenger Blick ihrer Mutter.
„Wir hatten ja gehört, was das Straßenmädchen erzählt hat, mit den unterirdischen Gängen und so. Elian hat gesagt, dass er wisse, wo die sind. Wir sind dann losgelaufen. Aber dann haben wir uns verirrt.“
Draußen waren schwere Schritte zu hören. Thomas und Hugo brachten Annette hinein und die Treppe hinauf zu den Schlafzimmern. Wo mochte Puce sein?
„Fass dich kurz!“, verlangte Catherine von ihrer Tochter.
„Es war so dunkel und alle Straßen sahen irgendwie gleich aus. Dann kamen plötzlich so seltsame Jungen auf uns zu. Ich glaube, die wollten uns ausrauben.“ Catherine röstete Constance unter ihrem Blick. „Die Wahrheit!“, mahnte sie.
„Das ist die Wahrheit, Maman. Das waren finstere Burschen und sie riefen uns unflätige Sachen zu. Da sind wir weggelaufen, so schnell wir konnten. Leider haben wir dabei nicht aufgepasst und dann fiel Elian über einen Haufen Steine, die da gar nicht hätten liegen sollen und schlug sich das Knie auf. Er konnte nicht mehr aufstehen danach, hat er gesagt. Aber später konnte er dann doch wieder laufen, als Claude kam.“ Constance warf ihrem kleinen Bruder einen anklagenden Blick zu.
„Das tat so gemein weh am Anfang!“, verteidigte Elian sich wütend. „Es tut immer noch weh, aber als Claude dann kam, habe ich mich zusammengerissen, damit du es weißt!“ Um ein Haar hätte er seiner Schwester die Zunge herausgestreckt, unterließ es angesichts der Gewitterwolkenmiene seiner Mutter dann aber lieber.
„Na schön“, sagte Catherine. „Ihr verschwindet jetzt nach oben, legt eure Nachtgewänder an und geht ohne ein weiteres Wort zu Bett. Morgen früh werdet ihr dann erfahren, welche Strafe für euer unsägliches Verhalten erhaltet. Und wenn ich noch einen einzigen Ton von euch höre, wird es schlimmer!“, würgte sie jeglichen aufkeimenden Protest ihrer Kinder ab. „Ab marsch! Und doch Elian, ich bin sicher, dass du selbst laufen kannst!“ Dennoch hob sie ihren Sohn von dem hohen Stuhl herunter und schob dann beide Kinder fast zärtlich aus der Küche in den Flur und der Treppe zu. Es war eine lebensgefährliche Nacht gewesen – ihre Freundin gerettet zu haben um dann zu Hause zu erfahren, dass ihre Kinder vermisst, verletzt oder gar tot waren war mehr, als sie selbst in ihrer bloßen Vorstellung jetzt noch ertragen konnte. Sie würde sich morgen noch Claudes Version erzählen lassen und überhaupt, würde es noch viel zu reden geben. Aber für jetzt war es einfach genug! Aber in der Eingangshalle entdeckte sie dann Puce. Das Mädchen hatte sich unter der Garderobe zusammengerollt wie ein Hund und schlief in völliger Erschöpfung. Und weil gerade Thomas die Treppe herabkam, wies Catherine den Hausdiener an: „Finde dem Kind eine Matratze, Decken und Kissen, und bereite ihr ein Lager in der Küche oder so.“
„Sie ist sehr schmutzig und hat vermutlich Ungeziefer“, bemerkte Thomas mit leicht gerümpfter Nase.
„Sie hat Madame de Tourville das Leben gerettet, Thomas!“, erwiderte Catherine streng. Thomas wusste, wann er auf verlorenem Boden focht. Nun, er würde Claude anweisen, die Göre hinüberzutragen, wenn sie sich nicht wecken ließ. Wozu gab es einen Hausburschen, nicht wahr?
„Sehr wohl, Madame. Ich kümmere mich darum.“
Und endlich konnte Catherine selbst nach oben gehen. Sie überzeugte sich davon, dass Annette alles hatte, was sie brauchte, ehe sie sich anschickte, ihr eigenes Zimmer aufzusuchen. Da stand aber plötzlich Hugo im Flur.
„Du bist durchgefroren. Willst du deine eiskalten Füße nicht an mir wärmen, mein Weib?“, fragte er zurückhaltend. Nichts an ihm war fordernd. Er stand nur einfach da, hielt die Tür seines Schlafgemachs auf, aber rührte sich ansonsten nicht. Catherine sah ihn an – und gab nach.
„Dir ist aber hoffentlich klar, dass ich in demselben Moment einschlafen werden, in dem mein Kopf das Kissen berührt“, warnte sie ihn.
„Das hoffe ich doch sehr, denn zu mehr bin ich jetzt auch nicht mehr fähig“, versicherte er ihr und sperrte gleich darauf den Mund zu einem gewaltigen Gähnen auf, das er einfach nicht unterdrücken konnte. Und so gingen sie zum ersten Mal seit Monaten gemeinsam ins Bett. Und schliefen.

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