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Taschendieb

Ich wünsche Euch allen Frohe Weihnachten! Vielen Dank, dass Ihr meinem Blog-Roman folgt. Ich freue mich schon, ihn mit Euch gemeinsam fortzusetzen. Feiert jetzt alle schön Weihnachten, gönnt Euch hoffentlich ein paar freie Tage und genießt die Zeit!

„Jean-Marc beschloss, umgehend zu jenem Posten der Archers du guet zu gehen, an dem Lagrange seinen Dienst versah, und zu versuchen, den Chevalier Lagrange unangemeldet abzupassen. Während Michel Michaud durchaus bekannt und ein steter Stein im Schuh der Etablierten war, wurde Jean-Marc Liévre nach wie vor ignoriert. Er mochte längst Commissaire sein, aber im Ansehen war sein Status noch immer der eines Eleve de Police und somit weniger wichtiger als Straßendreck. Jean-Marc war das egal. Es barg eine Menge Vorteile, unwichtig und somit unsichtbar zu sein.
„Wollen wir doch mal sehen, ob der ehrenwerte Chevalier sich auch dieses Mal verdrücken kann“, murmelte er vor sich hin während er auf das Hauptquartier zuging. Doch wie Michel schon vor ihm, scheiterte er am Wachmann vor dem Posten. Der ließ Jean-Marc nicht hinein, schickte einen Burschen, nach dem Lieutenant zu sehen und als der zurückkam, tuschelte er dem Wachmann etwas zu. Der daraufhin Jean-Marc beschied, dass der ehrenwehrte Lieutenant nicht abkömmlich sei. Und Jean-Marcs Marke galt hier rein gar nichts. Die Archers du guet unterstanden einzig dem Lieutenant Géneral und ein einfacher Commissaire habe hier keine Befugnis. Der Wachmann sage nicht direkt „Schieb ab!“, aber sein ganzes Gebaren hätte nicht deutlicher sein können. Er grinste unverschämt, als er Jean-Marc fortschickte. Der fügte sich, ja lächelte dem Wachmann noch zu und ging.
Allerdings einige Straßenecken weiter, bis zu einem kleinen Platz, wo sich eine ganze Reihe von Straßenhändlern zu einer Art Markt formiert hatten. Dort schaute er sich ein ganzes Weilchen um, bis er entdeckte, was er suchte: Einen kleinen, flinken Burschen, der mit dem Getriebe des Straßenbildes förmlich verschmolz. Ein Taschendieb – und, wie Jean-Marc nach einer guten halben Stunde der Beobachtung lernte, ein recht geschickter. Das war genau, was er brauchte. Er bewegte sich vorsichtig in Richtung des kleinen Räubers, der noch nicht wusste, dass er gleich ein Opfer werden würde. Voll konzentriert auf seine eigene nächste Beute, achtete der Junge zu wenig auf seine Umgebung. Mit sehr geschickten Fingern fischte er einem dicken Mann, der der Kleidung und seinem ganzen Benehmen nach kein gebürtiger Pariser war, in einem geeigneten Augenblick die Börse aus der Rocktasche. Kaum hatte er sie sich geschnappt und wollte sich schleunigst von dem Beraubten entfernen, legte sich plötzlich eine eiserne Hand um sein Genick, die zweite packte die Hand mit dem Geldbeutel und verdrehte sie dem Jungen, dass er aufschrie und die Börse fallenlassen musste.
„Du nichtsnutziger kleiner Dieb!“, rief Jean-Marc unnötig laut und zog damit die gesamte Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich. Auch der dicke Provinzler drehte sich um, sah seine Geldbörse und schrie auf.
„Das ist meine! Er muss sie mir gerade gestohlen haben. Du miese Ratte!“, schrie er empört und bückte sich mit einiger Mühe nach der Börse.
„Ja Monsieur, ich habe gesehen, wie er sie Euch aus der Rocktasche gezogen hat. Mit Verlaub, das ist ein sehr leichtsinniger Platz für eine Geldbörse und Ihr habt es geradezu heraufbeschworen. Aber seid unbesorgt: ich habe ihn erwischt!“ Jean-Marc machte weiterhin ein großes Gewese, hielt den zappelnden Taschendieb fest und verdrehte ihm soweit den Arm, dass der nach vorn klappte und seine Gegenwehr aufgab. Rufe wurden laut, den Missetäter an Ort und Stelle zu bestrafen.
„Die diebische Hand gehört ihm abgehackt!“, verlangte ein Geflügelmetzger mit blutiger Schürze.
„Aufhängen muss man dieses Gesindel“, forderte gar ein dürres Marktweib, von dessen Karren recht welkes Gemüse baumelte.
„Ich bin Commissaire de Police!“, rief Jean-Marc vernehmlich. „Ich sorge dafür, dass der Bengel seine gerechte Strafe erhält. Und glaubt mir, das Gesetz kennt keine Milde, bei solch diebischen Elstern!“ Wie zu Verdeutlichung schüttelte er den Burschen am Genick kräftig durch und passte den richtigen Moment ab, ihm Handschellen anzulegen. Das beeindruckte die Umstehenden und sie hörten auf, an Ort und Stelle nach Selbstjustiz zu schreien. Jean-Marc konnte den Jungen unbehelligt abführen.
„Wohin bringt Ihr mich?“, wollte der Junge kläglich wissen, als sie in eine kleine Gasse abbogen. „Bitte, ich hatte doch bloß Hunger und der Mann war doch wirklich so dumm. Bitte, ich werde es nie wieder…“
„Halt die Klappe!“, sagte Jean-Marc nicht allzu unfreundlich. „Ich brauche einen geschickten, flinken Burschen für ein kleines Geschäft. Meine Wahl fiel auf dich, herzlichen Glückwunsch!“
Das Gezappel des Jungen hörte schlagartig auf. Aber er sah misstrauisch über die Schulter in das Gesicht seines Häschers.
„Du bist gar kein Polizist!“, sagte er fast anklagend. Jean-Marc grinste.
„Oh doch. Ein waschechter Commissaire de Police, verlass dich drauf. Aber vielleicht lasse ich dich ungeschoren laufen und du kannst dir sogar noch 10 Sous verdienen, wenn du etwas für mich erledigst.“ Sie waren jetzt weit genug von der Stelle entfernt, wo Jean-Marc den Aufruhr verursacht hatte. Die wenigen Menschen, die diese Gasse hier benutzen, interessierten sich überhaupt nicht für den Mann und den Jungen, zumal Jean-Marc dafür sorgte, dass niemand die Handschellen sah.
„Und was soll ich dafür machen?“, fragte der junge Dieb misstrauisch. Jean-Marc drehte ihn zu sich herum und packte ihn an den mageren Schultern. Taschendiebe wie dieser Bursche, interessierten ihn normalerweise nicht. Für die meisten war es ein Geschäft, um zu überleben, weil das Leben ihnen keine anderen Optionen zur Verfügung gestellt hatte. Waren sie geschickt genug, fanden sie ihr Auskommen damit. Die anderen – nun, die verloren in der Tat eine Hand und bei Wiederholung wurden sie aufgehängt. So war das in Paris eben.
„Ich will nichts weiter, als dass du genau das machst, was du immer machst. Allerdings sollst du dafür sorgen, dass dein Opfer merkt, dass du es bestiehlst. Aber lass dich nicht schnappen, renn davon und lock den Mann zu mir. Um den Rest kümmere ich mich. Wenn du das schaffst, bekommst du deine Belohnung.“
„Ich soll mich nochmal erwischen lassen?“, fragte der Junge und klang fast gekränkt. Jean-Marc lachte. „Nicht erwischen lassen! Er soll dich nur verfolgen! Kannst du das?“
„Pff, na klar. Ich renne schneller als der Wind. Mich erwischt so schnell keiner.“ Der Junge verstummte, als ihm klar wurde, dass er mit dem Mann sprach, der ihn gerade erwischt hatte. „Und wen soll ich herlocken?“, fragte er nach einer kleine Pause weiter.
„Einen Chevalier der Archers du guet“, sagte Jean-Marc und grinste geradezu verschlagen. Die Archers du guet und das kleine Diebsgesindel von Paris waren natürliche Feinde, die sich gegenseitig herzhaft hassten. Die königliche Nachtwache von Paris, einst eine Bürgerwehr, heute eine militärisch organisierte Truppe, hatte die Aufgabe, Paris sicherer zu machen. Und jeder Taschendieb, Beutelschneider und Trickbetrüger versuchte genau das zu unterwandern. Die Uniform der Archers du guet war für alle Kleinkriminellen der Stadt das Signal, die Beine in die Hand zu nehmen und schleunigst das Weite zu suchen. Manchmal, wenn das Zahlenverhältnis günstig war, bezogen die Archers allerdings auch heftige Prügel – was dann später zu brutalen Strafaktionen führte, die häufig genug Unschuldige trafen.
Entsprechend blitzten die Augen des Jungen nun hasserfüllt auf. Gleichzeitig trat ein berechnender Ausdruck in seine Züge. Er ruckelte an seinen Handfesseln.
„Solange ich die trage, mache ich keine Geschäfte“, sagte er fordernd.
„Solange du die trägst, rennst du nicht schnurstracks davon“, konterte Jean-Marc. „Haben wir eine Vereinbarung?“
„Das ist ziemlich gefährlich für mich. Die Mistkerle sind selten allein unterwegs und wenn was schief geht, verliere ich meine Hand“, maulte der Junge und tat so, als fürchte er sich. Jean-Marc lächelte schwach.
„Wie viel?“, fragte er knapp.
„Ein Livre!“, verlangte der Junge wie aus der Pistole geschossen. „Im Voraus!“
„Ein Livre – in Ordnung. Im Voraus, träum weiter!“ Jean-Marc drehte den Jungen mit einem energischen Schubs um und schloss die Handschellen auf. „Das ist mein Vorschuss an dich“, erklärte er. „Und jetzt komm mit, damit ich dir zeigen kann, durch wen du dir dein Geld verdienen kannst. Wie heißt du?“
Der Junge zögerte. „Zach“, sage er dann. Jean-Marc nickte ihm zu. „Jean-Marc.“ Und damit marschierte Jean-Marc zurück gen Chatelet, scheinbar unbekümmert, ob der Junge ihm folgen würde oder nicht. Nach einem kurzen Moment hörte er, dass ihm Schritte folgten – und lächelte. Ein Livre bezahlt zu bekommen, um einen Archers du guet in die Pfanne zu hauen, das war einfach eine zu große Verlockung!

„Ich reiße dir die Eingeweide heraus, wenn ich dich erwische! Und ich erwische dich, verlass dich drauf!“
Verdammt, es sah wirklich danach aus! Wie konnte ein Erwachsener so schnell und so hartnäckig sein? Um ein Haar schlidderte Zach an der Gasse vorbei, in die er den Mann locken sollte. Der war ihm teuflisch dicht auf den Fersen. In der einen Hand krallte Zach den silbernen Knopf fest, den er dem Offizier vom Ärmel gerissen hatte, mit der anderen stützte er sich am Eckbalken des Hauses ab, um schneller um die Kurve zu kommen. Schon fühlte er die ausgestreckte Hand des Bestohlenen, konnte sich aber durch ein drehendes Wegducken noch einmal retten. Noch ein paar Meter…! Wie ein Schemen tauchte Jean-Marc aus einer Nische auf.
„Haltet den Dieb!“, brüllte Zachs Verfolger. Doch statt das zu tun, ließ Jean-Marc den Jungen an sich vorbei und stellte im nächsten Atemzug Lagrange ein Bein. Der schlug der Länge nach hin und für einen Moment blieb ihm die Luft weg.
„Gratuliere, Ihr seid auf den ältesten Trick Pariser Gauner hereingefallen. Würde nun alles seinen Gang gehen, wärt Ihr in den nächsten Minuten all Eure Habe, Kleider, Schuhe und vielleicht sogar Euer Leben los. Aber heute ist Euer Glückstag: Ihr seid in sicheren Händen!“, sagte eine belustigt klingende Stimme schräg über ihm. Lagrange spuckte Dreck aus und rappelte sich hastig auf, wobei er nach seinem Säbel zu greifen versuchte.
„Das würde ich lieber lassen! Bis Ihr den aus der Scheide habt, könnte ich Euch in aller Bequemlichkeit erschießen oder mit einem Messer die Kehle durchschneiden. Wir sollten das also lieber ohne Waffen regeln.“
„Was regeln?“, fragte Lagrange heiser. Er sah den Mann jetzt, konnte ihn aber in seinem dunklen Winkel nicht gut erkennen. „Ich warne dich, du Lumpenhund, es wird dich und deinesgleichen teuer zu stehen kommen, wenn ihr euch an einem Offizier der Wache vergreift!
„Ich möchte nichts weiter, als mit Euch reden, Chevalier Lagrange“, sagte Jean-Marc gelassen und trat aus dem Schatten heraus, wobei er seine Metallmarke vorzeigte. Lagrange riss die Augen auf. Aber statt seine Anspannung nun nachließ, nahm sie sogar noch zu. Jean-Marc blieb vorsichtshalber ein wenig auf Abstand.
„Ich bin Commissaire Liévre, Sondereinheit für Gewaltverbrechen, und ich habe einige Fragen an Euch, Chevalier. Da Ihr Euch bislang jedes Mal habt verleugnen lassen, wenn wir Euch sprechen wollten, musste ich leider auf eine etwas ungewöhnliche Methode zurückgreifen und bitte, das zu entschuldigen. Junge, du hast dir deine Belohnung verdient, komm her!“
Zach, der bislang irgendwo im Hintergrund seiner Atemschuld hinterhergekeucht hatte, kam nach vorn. Jean-Marc fischte eine kleine Silbermünze aus seiner Rocktasche und reichte sie dem Jungen, der sie sich so schnell schnappte, wie eine Froschzunge nach einem Insekt vorschnellte.
„Das ist nur eine halbe Livre!“, beschwerte er sich.
„Der silberne Knopf, den du dem Monsieur geklaut hast, deckt die andere Hälfte ab“, sagte Jean-Marc. „Gute Arbeit.“ Damit schnippte er dem Jungen noch eine Kupfermünze zu. „Als besondere Anerkennung – und jetzt schieb ab, ich habe ein paar Dinge mit dem ehrenwerten Chevalier zu bereden.“ Murrend gehorchte der Junge – insgeheim sehr zufrieden, denn er hatte zwei Knöpfe erbeutet. Diebstahl mit Polizeischutz, das hatte doch mal was! Da würden die anderen staunen, wenn er das erzählte.
„Ihr habt wahrhaftig seltsame Methoden, wenn Ihr Euch mit solchem Diebsgesindel gemein macht“, sagte Lagrange abschätzig. Jean-Marc zuckte mit den Schultern.
„Mein Anliegen ist es, einen Mörder zu finden und vielleicht auch noch einer Frau das Leben zu retten. Da erscheint mir ein Taschendieb ein vergleichsweise geringes Übel zu sein. Würdet Ihr mir eventuell an einen etwas weniger unwirtlichen Ort folgen und mir einige Fragen beantworten, Chevalier Lagrange?“
„Ich wüsste nicht, wozu. Der Inspecteur de Police, Lucien Malpart, war bei jenen Vorgängen, um die es Euch zweifellos geht, zugegen und hat bereits alle nötigen Informationen entsprechend weitergegeben. Da er Euch im Rang überlegen ist, bin ich Euch keinerlei Rechenschaft schuldig. Und über dieses empörende Vorgehen werde ich ihn ebenfalls informieren!“
„Das könnt Ihr gern tun, Chevalier. Ich mache Euch allerdings darauf aufmerksam, dass ich direkt dem Lieutenant Géneràl unterstellt bin – der, letztendlich, auch Euer Dienstherr ist. Ich würde also gern all das aufgeblasene Gebaren weglassen, und mich einfach in aller Freundschaft mit Euch unterhalten. Andernfalls muss ich annehmen, dass Ihr etwas zu verbergen habt, Chevalier. Was ich dann dem Monsieur Lieutenant Géneràl in jedem Fall zur Kenntnis bringen müsste.“ Jean-Marc hatte sich diesen Ton und das leichte Lächeln, das er dabei seine Mundwinkel umspielen ließ, bei Michel abgeschaut. Diese Art der subtilen, in sehr viel Höflichkeit verpackte Drohung, verfehlte praktisch nie seine Wirkung. So auch in diesem Fall. Lagrange wurde blass. Der Lieutenant Géneràl vertrat das Gesetz des Königs in Paris. Er war fast allmächtig, seine Geheimpolizei legendär und niemand, wirklich niemand wollte ihm ganz persönlich mit dem Verdacht zur Meldung gebracht werden, im Zusammenhang mit einem Mord zu stehen. Menschen verschwanden aus weit geringeren Gründen auf Nimmerwiedersehen im Chatelet und sofern man in einer der besseren, höher gelegenen Zellen überleben wollte, kostete einen das ein Vermögen. Ein einfacher Chevalier war da schnell ruiniert.
„Was wollt Ihr wissen, Commissaire?“

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