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Geständnisse zweiter Teil

 Geständnisse weiter

„Es ging dann alles recht schnell. Ich war noch einigermaßen besorgt, welches Danaergeschenk ich mit diesem Mädchen und seinen Absichten in Catherines Salon gebracht hatte“, hier unterbrach sich Madame de Tourville und warf ihrer Freundin einen entschuldigenden Blick zu, den diese mit einem lächelnden Kopfschütteln abtat, „als der Hausdiener bereits das Eintreffen des Chevaliers ankündigte. Ich dachte dann, dass es das beste wäre, mit dabei zu bleiben und damit hoffentlich den größten Schaden abwenden zu können. Mindestens wollte ich dafür sorgen, dass nichts davon den Ruf von Catherines Salon beschädigen würde“.
Jean-Marc runzelte die Stirn. Er hatte keine Ahnung, was ein Danaergeschenk war. Außer ihm schienen es alle zu verstehen, also fragte er lieber nicht. Es konnte jedenfalls nichts Gutes sein, schloss er.
„Ihr gingt dann also alle in den Blauen Salon, in dem später Aurelies Leiche gefunden wurde, richtig?“
„Zunächst kam der Chevalier in den großen Salon und er spielte, wie ich im Nachhinein verstanden habe, ein großartiges Theater, bei dem Aurelie und auch Inspecteur Malpart kräftig mitmischten. Aber auf Malpart komme ich gleich noch.“ Annette griff nach ihrem Weinglas und nahm einen tiefen Schluck. Sie war längst noch nicht so kräftig, wie sie sich gab. Aber es war ihr ein Bedürfnis, diese Aussage zu machen, und darum hatte sie Catherines und Hugos besorgten Rat, die Messieurs Commissaires doch lieber ein anderes Mal wiederkommen zu lassen, in den Wind geschlagen. Vielleicht brannte ihr das Geschehene etwas weniger auf der Seele, wenn sie alles erzählt hatte.
„Kaum waren wir im Blauen Salon, begann Aurelie auch schon, Legrange mit ätzenden Kommentaren zu überschütten. Mir wurde sehr schnell klar, mit was sie ihn zu erpressen gedachte: Er hat ein Verhältnis mit einem anderen Mann. Es mag ja eine recht einseitige Sicht auf die Dinge sein, wie ich zugebe, aber jeder Mensch, dem von Gott die Neigung zur gleichgeschlechtlichen Liebe gegeben wurde, hat erst einmal meine Sympathie, weiß ich doch selbst am besten, wie schwer uns das Leben gemacht wird!“
Auch wenn Annette de Tourville sich wenig Mühe gab, ihre eigene Neigung im normalen Leben zu verstecken, wahrte sie für gewöhnlich doch trotzdem eine gewisse diskrete Fassade. Dass sie jetzt so freimütig darüber sprach, dürfte eher ungewöhnlich sein, dachte Jean-Marc.
„Ich hatte mir Aurelies Bräutigam anhand ihrer Erzählungen als einen jener typischen groben Militärs vorgestellt, die Frauen wie Trophäen ansehen, die es zu erjagen gilt. Dieser Mann, Legrange, erschien mir dann von einem anderen Schlag zu sein, aber er war auch verzweifelt! Und ich glaube nicht, dass Aurelie begriff, wie verzweifelt und zu welchen Taten ihn das führen könnte!“
„Wie genau lautete Aurelies Drohung gegen Legrange und was gedachte sie von ihm zu erpressen, Madame de Tourville?“, schaltete sich nun Michel ein. Genauso wie Catherine und Hugo hatte er sich im Hintergrund gehalten, sodass Annette sich nicht bedrängt fühlen sollte.
„Natürlich drohte sie ihm, sein homosexuelles Verhältnis zu Inspecteur Malpart aufzudecken. Ich glaube, ich habe ziemlich nach Luft geschnappt, als ich hörte, mit wem der Chevalier sich da eingelassen hatte. Es passte so gar nicht zu dem, was ich über den Inspecteur bislang gehört hatte – nämlich dass er gerade drauf und dran ist, die Kirche gegen die ‚sittenlosen und teils sodomitischen Salons‘ aufzustacheln und sich damit einen politischen Standpunkt gegen den Lieutenant Général zu verschaffen. Dass ausgerechnet er selbst schwul ist, hat mir etwas die Sprache verschlagen und begrenzte schlagartig mein Mitleid für Legrange. Allerdings wurde mir auch klar, dass Aurelie hier mit einem Feuer spielte, das sie ganz sicher nicht würde kontrollieren können, auch wenn sie das glaubte.“
„Um welchen Betrag ging es bei der Erpressung?“, fragte Michel erneut. Annette stellte ihr Weinglas ab, wobei man sah, dass ihre Hand leicht zitterte. Obwohl das Zimmer gut geheizt war – zu gut für Jean-Marcs Temperaturempfinden – schien Madame de Tourville zu frieren. Catherine bemerkte es, stand auf, nahm ihr eigenes Umschlagtuch von den Schultern und brachte es Annette. Die nahm es mit einem dankbaren Lächeln entgegen und hüllte sich hinein.
„Meinst du, Thomas könnte mir eine heiße Schokolade bringen?“, bat sie ihre Freundin.
„Wenn du glaubst, dein Magen verträgt das schon wieder. Was hieltest du von indischem Tee? Hugo hat vor einiger Zeit welchen aus Marseilles mitgebracht. Er ist sehr gut und viel bekömmlicher als Kaffee oder Schokolade. Wäre das vielleicht etwas?“
Man sah Annette der Tourville an, dass sie nicht allzu viel von einem Getränk hielt, das ein in ihren Augen barbarisches Volk wie die Briten als Nationalgetränk auserkoren hatten, nickte aber dennoch. Catherine läutete, der Hausdiener kam und ging und die Unterbrechung gab Annette die Gelegenheit, sich einen Moment auszuruhen. Als sie dann weitersprach, war ihre Stimme wieder kräftiger. Mit nach innen gekehrtem Blick, wie als würde sie in ihrem eigenen Gedächtnis lesen, erzählte sie, was sich zugetragen hatte.

„Wenn du mir nicht einhundert Louis d’Or gibst, verrate ich, dass du ein Verhältnis mit dem ach so ehrenwerten Malpart hast. Hast du ihn übrigens hierher bestellt, damit er dich in dieser vertrackten Situation in den Arm nehmen und auf, na egal, küssen kann, um dich zu trösten?“ Sowohl der Betrag, als auch die groben Worte, die Aurelie wählte, ließen Legrange zusammenzucken.
„Ich habe keine hundertLouis d’Ors, wie du sehr wohl weißt! Ich habe wegen deiner Mitgift um deine Hand angehalten!“ Aurelie lachte auf.
„Das ist drollig, weißt du? Denn mein Vater ist hoch verschuldet und hatte wohl gehofft, dass du Geld mitbringst. Abgesehen davon hast du aber um meine Hand angehalten, um dir den Anstrich der Ehrbarkeit zu geben, und damit niemand auf die Idee kommt, dass du ein kleiner Sodomit bist. Mehr noch: Damit niemand auf die Idee kommt, dass dein Liebhaber einer ist, was seine glänzende Karriere sofort ruinieren würde. Ich hörte, sein Vater ist ohnehin nicht sehr angetan von seinem schwulen Sohn. Was würde wohl geschehen, wenn er erführe, dass er es noch immer mit Männern treibt? Ich habe mich wohl informiert, wie du siehst.“
„Du kannst nicht alles in den Abgrund reißen, nur weil du ein geldgieriges Luder bist. Im Übrigen lässt du dich ja genauso mit einer anderen Frau ein.“ Dieser Einwand von Legrange klang so verzweifelt wie er vermutlich auch war.
„Oh, das ist aber längst nicht so kompromittierend wie bei euch Männern, ist es nicht so, Annette? Aber tatsächlich brauche ich das Geld, um mich unabhängig zu machen. Verzeih mir Annette, aber wie ich vorhin schon sagte, ist es mir mit dir zu öde. Du bist einfach zu alt und ehrlich gesagt, hatte ich mir die Beziehung zu einer Sappho erheblich aufregender vorgestellt. Ich werde dich also verlassen, sobald der hier und sein Amor gezahlt haben, was ich verlange. Und glaubt nicht, ich ‚könne das nicht tun!‘ Ich kann und ich werde, denn ich werde mich weder meinem despotischen, beschränkten Vater noch sonst einem Mann je wieder unterwerfen. Ich will frei sein und dafür brauche ich ein Startkapital! Also, 100 Louis d’Or!“
„Du hast mich mit der Forderung nach zwanzig Louis d’Or herbestellt, was bereits eine horrende Summe ist. Ich habe sie dabei und bin bereit, sie dir zu geben. Aber mehr auf keinen Fall!“

„Ich war zu diesem Zeitpunkt leider nur noch auf Aurelie fixiert, deren Worte und Verhalten mich zutiefst entsetzten“, berichtete Madame de Tourville und schien mit ihrer Aufmerksamkeit erst jetzt wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Sie wurde unterbrochen, weil Thomas mit einem Tablett hereinkam, auf dem eine große silberne Teekanne sowie flache, dünnwandige Porzellantassen, eine Zuckerdose, ein Sahnekännchen und etliche Löffel wie ein Stillleben drapiert waren. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Diener alles auf dem Tisch arrangiert, den Tee in vier Tassen ausgeschenkt, alle nach ihren Wünschen für Zucker und Sahne gefragt und jedem seine Tasse gebracht hatte. Endlich verschwand er und Jean-Marc balancierte nun diese lächerliche Tasse auf seinen Knien. Eine Flüssigkeit, die so durchsichtig war wie dieser Tee, konnte wohl kaum nach viel schmecken. Was hätte er für einen starken Kaffee gegeben! Aber noch mehr brannte er darauf, dass Annette de Tourville endlich zum entscheidenden Punkt kam! Die nahm einen Schluck von dem Tee, den sie ohne Zucker aber mit Sahne nahm, bewegte ihn kurz im Mund und lehnte sich dann in ihrem Stuhl zurück und schien sich zu einer gewissen Entspannung zu nötigen.
„Ich war ziemlich vor den Kopf geschlagen von Aurelies kleiner Ansprache. Ich nannte sie ein undankbares kleines Miststück und dass sie die zwanzig Louis d’Or nehmen und direkt verschwinden solle, da sie meine Wohnung nicht mehr betreten würde. Legrange versicherte ich, dass sein Geheimnis bei mir sicher sei, aber der hörte mir gar nicht zu, war angespannt wie eine Violinensaite, und erst als Malpart hereinkam verstand ich, dass er die ganze Zeit auf ihn gewartet hatte. Leider war ich durch Aurelie zu abgelenkt um ganz und gar zu begreifen, in welcher Gefahr wir waren.“
„Malpart kam dazu?“, fragte Jean-Marc. Er beugte sich vor Spannung so weit vor, dass er fast die Teetasse von seinem Schoß gefegt hätte und nutzte die Gelegenheit, um sie auf dem Boden abzustellen. „Catherine, hat Malpart deinen Salon zwischendurch denn verlassen?“
„Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. Es herrschte eine ziemliche Unruhe und verschiedene Leute gingen und kamen während der Lesung. Weil das so unhöflich war, fühlte ich mich verpflichtet, meine Aufmerksamkeit umso deutlicher auf unsere Referentin, Madame d’Elyssee, zu richten. Aber ich erinnere mich jetzt, dass Malpart gleich neben der Tür zum Entrée stand. Ich glaube nicht, dass ich bemerkt hätte, wenn er zwischendrin für einige Minuten verschwunden wäre. Wie lange war er bei euch, Annette?“
„Ich weiß es nicht genau und du wirst gleich verstehen, warum. Malpart kam also herein und wurde sofort von Aurelie in übelster Weise beschimpft. Sie gebrauchte Worte, die ich hier nicht wiederholen will.“ Annette wirkte selbst in der Erinnerung schockiert und Jean-Marc erschien sie sonst eigentlich nicht als eine Person, die man mit ein paar Schimpfwörtern überraschen konnte.
„Malpart ging allerdings gar nicht darauf ein, sondern fragte Legrange, wie weit man sei. Ich dachte, er meinte die Verhandlungen über die Erpressung. Legrange teilte ihm mit, dass sie nun hundertLouis d’Or wolle, Aurelie betonte das mit einem ‚das dürfte Euch ja nicht schwerfallen, Malpart‘, und ich dummes Schaf meinte immer noch, irgendwie vermitteln zu können. Aber dann hatte Malpart plötzlich ein ziemlich tückisches Messer, oder eher einen Dolch in der Hand und Legrange machte einen Schritt hinter mich. Es ging ab hier alles sehr schnell. Ich sah nur auf den Dolch, wurde aber von Legrange – also ich nehme an, dass er es gewesen sein muss – von hinten gepackt, zwei brutale Finger bohrten sich so neben meine Kiefergelenke, dass ich den Mund öffnen musste, und dann wurde mir eine ziemliche Menge von etwas widerlich Süßem, Klebrigen in den Rachen geschüttet. Ich bekam die Hälfte davon in die falsche Kehle, musste furchtbar husten, bekam kaum noch Luft und schlug wohl dabei ziemlich um mich. Ich wurde losgelassen und muss gegen Malpart getaumelt sein. Jedenfalls nahm ich als nächstes wahr, dass sein Dolch genau vor meiner Hand lag. Es war ein reiner Reflex, dass ich danach griff. Ich bekam immer noch nicht wieder richtig Luft, aber zusätzlich wurde mir in diesem Moment auch noch furchtbar schwindelig und eine unglaubliche Benommenheit kam über mich. Das letzte was ich erinnere war, dass ich mehr oder minder auf Aurelie lag und mir Blut durch die Finger quoll. Dann muss ich bewusstlos geworden sein.“ Einen Moment herrschte Schweigen. Annette hatte angewidert das Gesicht verzogen und stellte ihre Teetasse nun ebenfalls zur Seite, so als würde der eklige Geschmack dessen, was man ihr in den Mund gekippt hatte, sich wieder ihres Gaumens bemächtigen.
„Schlafmohnsaft“, konstatierte Jean-Marc. „Verdammt, ich habe auf dem Teppich etwas Seltsames gerochen, konnte es aber nicht einordnen. Aber es muss Schlafmohnsaft gewesen sein. In hoher Konzentration – und dafür spricht der Geschmack, den Ihr beschreibt, Madame de Tourville – kann er durchaus binnen kürzester Zeit zu Bewusstlosigkeit führen. Und bei der Art und Weise, in der er Euch eingeflößt wurde, ist garantiert ein Teil verschüttet worden und auf dem Teppich gelandet.“
„Vermutlich. Aber an mehr, als ich eben erzählt habe, kann ich mich nicht erinnern. Ich habe sowohl in meinem Verließ als auch seit ich hier zu Gast bin darüber gegrübelt, aber das ist alles, was ich beitragen kann. Ich habe keinerlei Erinnerung daran, was noch geschah, wie genau Aurelie zu Tode kam oder wie ich schließlich in die Carriérs gelangte. Vielleicht könnt Ihr, Messieurs Commissaires nun im Gegenzug mir einige neue Erkenntnisse bringen, befinden sich doch Legrange und Malpart, soweit ich das von Catherine erfahren konnte, in Eurem Gewahrsam?“ Annette wirkte mit einem Mal erschöpft und ihre Hände zitterten leicht, als sie sie auf den Armlehnen ihres Stuhls ablegte.
„Ja, das ist richtig, Madame de Tourville“, schaltete sich jetzt Michel ein, der bislang seinen Tee in artigen kleinen Schlucken getrunken und sich ansonsten zurückgehalten hatte. Jetzt stand er von seinem Stuhl auf und brachte sich in eine Position in der die Kranke ihn besser sehen konnte.
„Während wir Monsieur Malpart noch nicht verhört haben, hat uns Monsieur Legrange recht bereitwillig alles erzählt, was sich am Abend des zehnten Oktobers in Madame du Foixs blauem Salon zugetragen hat. Natürlich sind uns mehrere Aussagen immer willkommen, um sich miteinander vergleichen und somit ihren Wahrheitsgehalt bestimmen können. Darum bitte ich um Verständnis, dass wir Euch in Eurem angeschlagenen Zustand behelligen mussten“, begann er mit der ihm eigenen Höflichkeit, die Jean-Marc bis zum heutigen Tag nie hatte kopieren können, auch wenn er es in den ersten Jahren versucht hatte, weil er glaubte, nur so ein guter Commissaire werden zu können. Inzwischen hatte er seinen eigenen Stil gefunden und erkannt, dass sie sich auf diese Weise sehr gut ergänzten.
Annette winkte matt mit ihrer langgliedrigen Hand ab, um Michels Entschuldigung als nichtig abzutun. Also erzählte er nun auch hier, was er Jean-Marc bereits auf dem Weg kurz umrissen hatte.
„Alles begann damit, dass sich die Messieurs Malpart und Legrange auf einer Abendveranstaltung irgendwann im Frühjahr dieses Jahres trafen, die irgendwas mit den Archers du guet zu tun hatte. Sie erkannten einander als das, was sie waren: dem eigenen Geschlecht zugetan. Es gibt da wohl gewisse Zeichen, die gegeben und nur dann verstanden werden, wenn man dazu gehört.“ Annette nickte mit einem schwachen, wissenden Lächeln.
„Legrange deutete an, dass sie beide gleichermaßen ausgehungert nach einer Beziehung waren und rasch noch weitere Gemeinsamkeiten fanden. Nämlich eine gewisse Verbitterung darüber, dass sie sich ewig verstellen müssen, von ihren eigenen Familien verachtet werden und ganz insgesamt in ihrem Fortkommen behindert werden, weil sie zu viel Energie auf Geheimhaltung ihrer, wie er voller Überzeugung sagte, von Gott gegebenen Neigung aufwenden müssen. Vor allem Malpart war bereits fest entschlossen, an dieser traurigen Tatsache etwas zu ändern. Er plante nichts Geringeres, als den Lieutenant Général de Police zu stürzen, um dann selbst dessen Platz einzunehmen. Man muss zugestehen, dass es Monsieur Malpart nicht an Ehrgeiz mangelt. Dafür dachten sie sich einen zwar etwas umständlichen, aber durchaus perfiden Plan aus, bei dem Ulysses, der schwarze Leibdiener des Lieutenant Général, eine tragende Rolle spielen soll.“
Jean-Marc fand, dass sein Partner immer ein wenig umständlich erzählte, aber da er bislang auch nur in einige Stichpunkte eingeweiht war, teilte er die allgemeine Aufmerksamkeit durchaus, auch wenn sein Blick nun gelegentlich zu Catherine oder Hugo abschweifte. Was dachten sie gerade über ihn? Vermutlich gar nichts, weil sie genauso auf Michels Bericht konzentriert waren wie er selbst es hätte sein müssen. Aber je länger Jean-Marc sich im selben Raum wie Catherine aufhielt, umso dringlicher wurde sein Bedürfnis, mit ihr, und nur mit ihr, zu reden. Allerdings, warum eigentlich? Welchen Fehler sollte er schon gemacht haben? ‚Ihren Mann betrogen, vielleicht?‘, flüsterte eine kleine, ironische Stimme in seinem Kopf. Energisch rief er sich zur Ordnung. Den letzten Satz von Hugo hatte er wohl nicht mitbekommen.
„…kam ihnen die Erpressung von Aurelie fast gelegen. Sie beschlossen, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Wenn sie das Mädchen umbrachten, konnten sie die Bedrohung von Erpressung und Offenlegung ihrer verbotenen Beziehung abwenden, und wenn sie dabei einen Mohren so platzierten, dass man ihn sehen konnte, konnten sie das vielleicht Ulysses in die Schuhe schieben und somit den Lieutenant Général in ein schlechtes Licht rücken.“
„Was für ein idiotischer Plan soll das denn sein?“, rief Catherine aus. „Der hat doch mehr Schwachstellen als es Ratten im Louvre gibt!“
„Da stimme ich Euch zu, Madame du Foix. Allerdings hatte Malpart bereits eine gewisse Vorarbeit geleistet, indem er sowohl gegen die Moral der Salons als auch gegen die angebliche Bedrohung, die von freien Schwarzen ausgehe, Stimmung machte, und der Lieutenant Général bereits gezwungen war, darauf zu reagieren. Da anzunehmen war, dass er sich im Zweifelsfalle bedingungslos hinter seinen Leibdiener stellen würde, hätte das seine Stellung durchaus beschädigen können. Die Laune der Pariser kann sehr schnell von aufgeklärt und fortschrittlich zu konservativ und kirchengläubig umschlagen.“
„Und der König wird von konservativen Strömungen beraten“, ergänzte Catherine und sprach damit aus, was Michel niemals laut formuliert hätte. Er nickte jetzt nicht einmal dazu, sondern schwieg einfach und so hielt Jean-Marc es genauso. Nur Annette, die zwischenzeitlich die Augen geschlossen hatte, um ihrer Erschöpfung ein wenig nachzugeben, offenbar aber dennoch aufmerksam gelauscht hatte, sagte: „Sich darüber zu empören, dass man selbst diskriminiert wird, und dann die Diskriminierung anderer Minderheiten dazu zu benutzen, sich selbst Vorteile zu verschaffen…“, sie schlug die Augen auf und Jean-Marc konnte sehen, dass sie vor Verachtung zu schmalen Schlitzen zusammengezogen waren, „das ist wirklich das Niederträchtigste, was ich je gehört habe! Bis eben war ich ja geneigt, Malpart und Legrange ein gewisses Verständnis entgegen zu bringen. Die Erniedrigungen, die Menschen entgegengebracht wird, die Menschen ihres eigenen Geschlechts lieben, sind aushöhlend und zersetzend auf Dauer. Man ist es irgendwann einfach müde und möchte sich dafür rächen, irgendwie. Aber dieser Plan – abscheulich!“ Damit lehnte sie sich erneut zurück und schloss wieder die Augen. Damit war auch alles dazu gesagt, fand Jean-Marc. Auch Michel nickte leicht und setzte dann seinen Bericht fort.
„Wir wissen nicht genau, ob es Zufall war, dass Aurelie ein Treffen während Madame du Foixs Salon vorschlug, oder ob da irgendwie nachgeholfen wurde. Jedenfalls passte das ja prächtig zu Malparts Anti-Salon-Politik. Also verabredeten sie, sich dort unabhängig voneinander zu treffen. Aurelie sollte sterben, Madame de Tourville verschwinden und alles sollte so arrangiert werden, dass der Verdacht auf Madame de Tourville und einen Mohren fallen sollte. Zu diesem Zweck rekrutierte Malpart eigens einen kräftigen schwarzen Mann in den Elendsgassen und sorgte dafür, dass er möglichst lange im Voraus in der Rue Saint Antoine zu sehen war. Mir will allerdings scheinen, dass er nur den aufmerksamen Augen Eurer Kinder auffiel, Madame du Foix und sonst niemandem. Nun ja, Paris eben.“
„Und wie kam nun dieser Baron, also Aurelies Vater noch in all das mit dazu?“, erkundigt sich nun Hugo, der seine Teetasse längst geleert hat und nun aussieht, als sehne er sich nach einem anständigen Cognac oder dergleichen. Jean-Marc hegt wenig Hoffnung, dass er von Catherines betrogenem Ehemann auch einen angeboten bekommen wird.
„Es scheint, dass sie einen dritten Mann für die Sache brauchten. Legrange fühlte also vorsichtig vor und es stellte sich heraus, dass Baron d’Argencourt sofort eigene Ideen zu der Sache entwickelte und darauf kam, nebenbei auch noch Madame de Tourville um ein möglichst großes Sümmchen zu erleichtern, da er, d’Argencourt, bedauerlicherweise in den letzten Jahren einen großen Teil seines Vermögens verloren hatte. Also bot d’Argencourt sich an, bei der Sache zu helfen. Skrupel, seine Tochter umzubringen, hatte er nicht, da das Mädchen für ihn ohnehin bereits gestorben war als sie sich nach Paris und zu einer Lesbe absetzte, bitte um Verzeihung, Madame de Tourville.“ Die winkte wieder nur ab.
„Bis eben habe ich nicht verstanden, wie das Trio darauf hoffen konnte, Madame de Tourville ohne großes Aufsehen zu entführen. Aber der Schlafmohn erklärt es nun. Malpart sollte also Aurelie erstechen. Da in Kreisen der Polizei bekannt ist, dass unser Monsieur Liévre hier in der Lage ist Fingerabdrücke abzugleichen, sorgte er anschließend dafür, dass sich ihre auf dem Messer, das man zurückließ, wiederfanden. Legrange sollte eigentlich durch den Haupteingang das Haus verlassen, bekam aber in dem Durcheinander zu viel Blut auf sein Justaucorps und zog darum den Rückzug durch das Fenster vor, durch das man auch die bewusstlose Madame de Tourville mit Hilfe des endlich tätig werdenden Mohren hievte. Draußen wartete dann Baron d’Argencourt mit einer Kutsche, mit der er die Entführte nach Montrouge brachte. Den Mohren brauchte er dort noch, um die Bewusstlose an ihren Bestimmungsort zu tragen. Anschließend muss d’Argencourt den armen Tropf umgebracht haben – von hinten heimtückisch erschlagen, wie es aussieht. Malpart sorgte inzwischen im Haus dafür, dass besagtes Fenster wieder ordentlich geschlossen und alle Spuren innerhalb des Raums so verändert wurden, dass alles ins Bild passen sollte. Er muss eine gehörige Portion Glück gehabt haben, dass er anschließend unbemerkt zurück zu Lesung kehren und den Überraschten mimen konnte, als Aurelies Leiche schließlich entdeckt wurde.“ Michel kräuselte die Lippen. Es war ein insgesamt schlampiges Verbrechen, das eigentlich gar nicht hätte funktionieren dürfen. So etwas ärgerte ihn.
„Wenn wir jetzt noch Malpart zu einer Aussage bewegen können, wäre das Bild komplett. Wir werden ihn uns morgen vornehmen.“
Eine ganze Weile herrschte Schweigen in Catherines großem Salon. Hugo gab endlich seinen inneren Kampf auf und ging zu dem Servierwagen, auf dem diverse Karaffen standen. Er entstöpselte eine und schenkte sich ein bereitstehendes Glas fingerbreit ein. Dann warf er einen fragenden Blick in die Runde. Catherine nickte, Anette schüttelte den Kopf und Michel lehnte ebenfalls ab. Dann begegneten sich Hugos und Jean-Marcs Blicke. Hugo sah den Mann, der in den letzten acht Jahren wiederholt und regelmäßig mit seiner Frau zusammengelegen und sogar ein Kind gezeugt hatte, durchbohrend an. Jean-Marc sah einfach zurück. Eine Entschuldigung war ebenso sinnlos wie hier fehl am Platz. Es gab nichts, was er hätte vorbringen können. Es war geschehen. Ob es wieder geschehen würde, wusste er selbst nicht. Also sah er Hugo einfach in die Augen und blinzelte nicht. Ein grimmiges Lächeln zog Hugos rechten Mundwinkel nach oben. „Ach zum Teufel auch!“, sagte er sehr leise und mehr wie zu sich selbst, während er nach zwei weiteren Gläsern griff. Er schenkte in beide eine großzügige Menge ein, nahm sein eigenes in die linke Hand und die beiden anderen zusammen in die Rechte. Dann ging er erst zu Catherine, ließ sie eines abnehmen, danach zu Jean-Marc und bot es ihm an. Der nahm es ohne Hast. Hugo hob sein eigenes Glas.
„Auf das Ende einer höchst unerfreulichen Episode!“, sagte er vernehmlich. Jean-Marc blieb es selbst überlassen, diesen Trinkspruch auszulegen. Er verzichtete darauf und nahm lieber einen Schluck. Es war, natürlich, Eau de Vie de Sydre, der normannische Apfelbrand von Catherines Heimatgut Falabraque. Laut Catherine eignete es sich für Friedensverhandlungen ebenso gut wie für Kampfansagen.
‚Ach zum Teufel, was auch immer. Das Zeug schmeckt wirklich anständig!‘, dachte Jean-Marc. Dann hielt er inne, fing über den Rand seines Glases Hugos Blick auf – und dann prosteten die beiden Männer sich stumm einen eigenen, ganz privaten Toast zu.

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