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Eustache und Ulysses

13. Oktober 1737, zwischen 22.00 und Mitternacht

Eustache erreichte rutschend und leise fluchend die ersten Häuser von Montrouge. Aus einigen wenigen Fenstern leuchtete ein schwacher Schein, aber die meisten waren dunkel und vor dem schlechten Wetter verrammelt. Die Menschen hatten die Fensterläden vorgelegt und die Regennacht ausgesperrt. Wo war der Reiter hin? Auf der aufgewühlten, schlammigen Straße konnte Eustache keine einzelne Spur erkennen und überhaupt hatte er sowas immer für Angeberei gehalten. In frisch gefallenem Schnee vielleicht – aber auf einer Pariser Straße? Wohl kaum.
Wohin könnte der Reiter wollen? Eustache hatte keinen blassen Schimmer. Er ging weiter, hielt sich aus den spärlichen Lichtkegeln der noch spärlicheren Laternen heraus und lauschte, so gut das möglich war. Gerade lies der Regen nach.
Dennoch, als Eustache das Pferd hörte, war es auch schon fast über ihm. Völlig unvermutet kam es in einem hektischen Trab aus einer Seitengasse, und Eustache konnte gerade noch beiseite springen.
„Pass doch auf, Tölpel!“, schnauzte der Reiter ihn an und parierte das Pferd hart, als es erschrocken einen Seitensprung machen wollte. ‚Gekonnt aber gefühllos‘, dachte Eustache, der gemeinsam mit Jean-Marc die eine oder andere Reitstunde in den Tuilerien genommen hatte. Für einen Moment erhaschte er auch einen Blick auf das Gesicht. Es handelte sich um einen Mann im fortgeschrittenen Alter, irgendwas zwischen 40 und 50 schätzte Eustache. Hängebacken, ein erster Ansatz zum Doppelkinn, kein Bart, kleine Narbe. ‚Adel, vielleicht Ex-Militär‘, dachte Eustache.
„Verzeihung, Monsieur, Verzeihung!“, buckelte Eustache wie es jeder arme Pariser tat, der mit einem Adeligen zusammenstieß, auch wenn es eindeutig dessen Rücksichtslosigkeit war, die den Zusammenstoß verursacht hatte.
„Wo ist der Platz mit den großen Rädern?“, fragte der Reiter barsch. Sein Pferd stieß Dampfwolken in die kalte Nachtluft und tänzelte unruhig.
„Platz mit den großen Rädern?“, fragte Eustache verständnislos.
„Na auf diesen Gestellen, die die Steine aus dem Boden fördern. Herrgott, muss ich ausgerechnet an einen Blödmann geraten?“, schimpfte der Mann und hätte er eine Reitpeitsche gehabt, hätte er wohl damit nach Eustache geschlagen. Dem ging mit einem Mal ein Licht auf. Allerdings kannte er sich hier nicht gut genug aus, um einen Weg zu weisen.
„Keine Ahnung, Monsieur. Weiß nicht“, murmelte er, als sei er der örtliche Depp. Der Reiter stieß ein Knurren aus, zog den Fuß aus dem Steigbügel und trat damit nach Eustache. Der konnte zwar ausweichen, glitt dabei aber aus und fiel in den Matsch. „Fort mir dir, Missgeburt!“ Mit derselben Bewegung, mit der er den Fuß wieder im Bügel platzierte, stieß ihn der Reiter seinem Pferd auch in die Seite, so dass sich dieses mit einem geplagten Grunzen aus dem Stand in einen verspannten Galopp setzte und fast sofort wieder in Regen und Dunkelheit verschwunden war.
Eustache fluchte und rappelte sich auf. Seine Kleidung triefte. Verdammter Mistkerl! Aber Eustache war sich immerhin ziemlich sicher, wer der Mistkerl war: Baron d’Argencourt, der Vater der ermordeten Aurelie. Und er suchte die Berghaspeln, jene Förderräder, mit denen die letzten Reste der fast erschöpften unterirdischen Steinbrüche, die halb Paris untertunnelten, ausgebeutet wurden. Annette der Tourville – hatte man sie dort versteckt? ‚Wie vom Erdboden verschluckt‘, in der Tat! Eustache hatte keine Antwort auf die Frage, wie d’Argencourt in dem Ganzen drinsteckte, aber er hatte keinerlei Zweifel, dass sich die verschwundene Sappho irgendwo in diesen unermesslich langen Tunneln befinden musste – lebendig oder tot.

Thomas hatte die Kinder unerbittlich die Treppe hinauf und in ihr Zimmer geschoben. Seit es kein Kindermädchen mehr gab, kümmerte sich Catherine meist selbst um die beiden. Oder die Köchin, eine gute, mütterliche Seele, hielt ein Auge auf die Kinder. Ein Dauerzustand war das natürlich nicht und Catherine hatte bereits ausgestreut, dass sie jemanden suchte. Aber natürlich ging das nicht so schnell.
„Monsieur Elian, Mademoiselle Constance, wenn ich bitten dürfte“, sagte Thomas förmlich und hielt die Tür auf.
„Und wenn wir Nein sagen?“, fragte Elian frech und herausfordernd.
„Dann sähe ich mich gezwungen, Euch bei den Ohren zu packen und hinein zu schleifen“, sagte Thomas in unverändertem Ton. Irgendwas an der Haltung seiner Schultern sagte Elian aber, dass er es lieber nicht darauf ankommen ließ. Seine Wange brannte auch noch, wo die Hand seiner Mutter einen roten Fleck hinterlassen hatte. Also ging er – wenn auch unter Protest. Constance war bereits vor ihm hineingegangen und setzte sich jetzt wie eine vollendete Dame auf einen der Kinderstühle in der Nähe des Fensters.
„Die Köchin wird euch später das Dinner heraufbringen“, verkündete Thomas. Dann zog er die Tür zu und schloss sorgfältig zweimal herum.
„Das ist so ungerecht!“, wütete Elian und schlug frustriert mit der Faust in ein Kissen.
„Ja schon“, pflichtete Constance ihm gedehnt bei. Der triumphierende Ton seiner Schwester ließ Elian aufhorchen. Gespannt blickte er sie an. Langsam griff sie unter ihren Überrock und mit aufreizenden Langsamkeit eines Straßenkünstlers förderte sie etwas hervor, das sie zwar mit der Hand umschloss, jedoch nicht ganz darin verbergen konnte.
„Ist das etwa…“ hauchte Elian, ganz gegen seine Gewohnheiten in ehrfürchtigem Flüsterton.
„Ja!“, sagte Constance und lächelte, man konnte es nicht anders sagen, diabolisch. „Das ist der Schlüssel zu unserem Zimmer. Der Zweitschlüssel, um genau zu sein. Ich habe ihn schon vor einiger Zeit, nun, stibitzt, um genau für Fälle wie diesen gerüstet zu sein. Jetzt müssen wir uns nur noch überlegen, wie wir zu diesem Montrouge kommen, von dem das Mädchen Puce geredet hat. Stell dir vor, WIR sind es, die Madame de Tourville befreien!“

Ulysses

„Mein Mann findet nicht leicht Arbeit, weil er so schwarz ist und sich die Leute vor ihm fürchten. Oder sie halten ihn für blöd. Das ist er nicht, aber die Leute denken es, weil sie denken, dass Mohren mehr Tiere als Menschen sind. Sie sind die, die blöde sind.“ Die junge Schwangere hielt inne, als fiele ihr jetzt erst auf, dass der Mann vor ihr zwar vornehm und teuer gekleidet, aber auch von schwarzer Hautfarbe ist. Das verwirrte sie offensichtlich und sie verstummte, als grübele sie über diese seltsame Laune der Weltordnung nach.
„Ja, das hast du gut erkannt“, lobte Ulysses. Das Mädchen war bedingt durch ihre Armut ungebildet, ihre Sprache einfach – aber sie war zweifellos scharfsichtig. „Aber dann fand er Arbeit, richtig?“, fragte er behutsam weiter. Das Mädchen schrak aus ihren Gedanken auf, sammelte sich und nickte dann.
„Ja. Noé, das ist mein Mann, war zu den Quais gegangen. Da kriegt er manchmal Arbeit. Er hätte welche bekommen, aber die anderen Männer prügelten ihn weg. Das passiert häufig. Sie sagen dann, dass das schwarze Vieh ihnen die Arbeit wegnimmt. Sie warfen ihn in die Seine. Noé kann nicht schwimmen, aber er schaffte es zu einer der Quai-Treppen.“ Das Mädchen, das ihm keinen Namen genannt hatte, erzählte dies mit einer fest verankerten Bitterkeit, die ein Leben voller Ungerechtigkeit und Härte erzeugten. „Er war nass und klapperte mit den Zähnen, als er hierherkam. Er war trotzdem fröhlich. Noé kann das so gut: Fröhlich sein!“ Erneut strich sich das Mädchen über den Bauch und jetzt lag der Hauch eines Lächelns auf ihrem Gesicht. Ulysses verstand: Sie hatte sich in einem Mann verliebt, der fröhlich sein konnte, obwohl das Leben nichts für ihn bereithielt, das dazu Anlass gab. Es hatte sie über seine Hautfarbe und alles andere hinwegsehen lassen.
„Hat er erzählt, was ihn fröhlich machte?“, fragte Ulysses, als das Mädchen wieder in Gedanken zu versinken drohte.
„Oh ja! Als er da tropfnass von den Quais floh, hielt ihn jemand auf und bot ihm eine Arbeit an. Und viel mehr Geld dafür, als er in einer ganzen Woche an den Quais verdient hätte! Noé zeigte mir eine Silbermünze! ‚Und nochmal so viel, wenn die Arbeit getan ist!‘, sagte er aufgeregt. ‚Da können wir dem Kind eine Wiege kaufen‘, sagte er und lachte, wie nur Noé lachen kann.“ Die Erinnerung zauberte wieder einen Hauch Glück auf das Gesicht des Mädchens. Gleich darauf verdüsterte es sich jedoch wieder. „Er kam nicht zurück. Ich habe ihn überall gesucht. Er ist verschwunden. Madame“, sie machte eine vage Handbewegung zu der Tür, hinter der Coumba bei der Verrichtung irgendeiner Tätigkeit zu hören war, „legte die Karten und sie war sehr bekümmert. ‚ich sehe ihn nicht. Er ist in Dunkelheit‘, sagte sie. Aber sie konnte nicht sagen, ob er tot ist.“ In ihren Augen erschienen keine Tränen. Ihr Kummer war tiefgreifender, fataler, bar jeder Illusion.
„Hat Noé etwas über denjenigen gesagt, der ihm die Arbeit und die Silbermünze gegeben hat?“, fragte Ulysses, dieses Mal so behutsam wie eine Katze, die eine Maus belauert.
„Ja. ‚Ich glaube, er ist ein Offizier. Oder ein Polizist. Er ist es gewohnt, Befehle zu geben. Er ist groß und arrogant und er riecht nach Tabak und Parfum‘, hat er gesagt. Noé nimmt sowas genau und er kann besser riechen als ein Hund“, erklärte das Mädchen.
„Einen Namen hat er aber nicht genannt?“, fragte Ulysses, obgleich er nicht damit rechnete.
„Nein. Er hat ihm nur gesagt, dass er bei Einbruch der Dämmerung zur Rue Saint Antoine gehen und sich da unsichtbar halten soll, bis man ihm pfeife. ‚Als ich frage, was ich da machen soll, sagte der Mann, dass ich das noch früh genug erfahre und es das Geld nur gibt, wenn ich niemandem davon erzähle. Aber dir erzähle ich alles. Immer!‘, sagte Noé zu mir. Er hat sich trockene Sachen von Antoine geborgt und ist dann los, weil es schon langsam Zeit wurde. Und seitdem ist er verschwunden.“
„Wann war das?“, fragte Ulysses, obwohl er die Antwort schon kannte.
„Vor drei Tagen, jetzt fast schon vier Tagen. Er kam nicht wieder und Madame kann ihn in den Karten nicht sehen. Sie hat gesagt, dass du mir vielleicht helfen kannst, ihn zu finden. Bitte!“ Jetzt sah das Mädchen ihn zum ersten Mal mit einiger Lebhaftigkeit an. Mon Dieu! Vermutlich war sie höchstens 15 oder 16 Jahre alt! „Er ist doch der Vater meines Kindes. Und er ist mein Noé! Und keiner schert sich um Leute wie uns. Bitte, kannst du ihn finden?“

Eustache

Eustache fand die Fördertürme nach einigem Suchen. Leider schien Baron d’Argencourt vor ihm angekommen zu sein: Sein Pferd stand, angebunden an eine rostige Stange in der Nähe einer der Haspeln, atmete noch immer schnell und trat unruhig auf der Stelle. Dampf stieg von ihm auf und es schnaubte nervös, als Eustache sich ihm näherte.
„Ruhig, ruhig“, flüsterte Eustache. Im Gegensatz zu Jean-Marc mochte er Pferde, auch wenn er mangels Gelegenheit wohl nie ein wirklich guter Reiter werden würde. Er bedauerte, keine Decke zur Hand zu haben, die er dem erhitzen Tier in der kalten Regennacht überwerfen könnte. Aber da war wohl nichts zu machen. Und als er sich umsah, erblickte er, schwarz und gähnend wie ein Schlund in der Nacht, den Eingang zu den carrières, den Tunneln, die Paris unterhöhlten, als hätte sich ein Wurm durch dessen Eingeweide gefressen. Es hieß, sie seien über hundert Meilen lang. Nun, wer auch immer Annette de Tourville dort hinunter geschleppt hatte, würde es nicht weiter als unbedingt nötig tun. Eustache betrat den Stolleneingang und entdeckte, was er erhofft hatte: Laternen und Zunder. Sie waren zwar hinter einem Gitter verwahrt, damit sie nicht gestohlen werden konnten – aber entweder besaß der Baron einen Schlüssel dazu, oder jemand anderes hatte es offengelassen. Eustache bediente sich, entzündete die Laterne und holte dann tief Luft.
„Du bist mir was schuldig, Jean-Marc“, brummelte er, als er sparsam in den Schacht sah, aus dem die Haspel Steine heraufförderte – oder es zumindest irgendwann getan hatte. Daneben, eng an die nackte Wand gepresst, führte eine ausgetretene Treppe spiralförmig nach unten. Kein Geländer, kein Handlauf.
„Dafür reichen ein oder zwei spendierte Bier nicht aus!“, grummelte Eustache. „Ganz entschieden nicht! Dafür musst du tiefer in die Tasche greifen, Jean-Marc!“ Unter solchen und ähnlichen Drohungen, versetzt mit kurzen Flüchen, wenn sein Fuß abglitt oder eine zerborstene Stufe knirschte, bahnte sich Eustache seinen Weg in die Tiefe. Endlich erreichte er den Grund des Schachts. Er warf einen Blick nach oben und es kam ihm unendlich weit vor. Er holte tief Luft, dann hielt er seine Laterne so, dass er den weiteren Weg sehen konnte: Ein Stollen von knapp zwei Klaftern Breite und einem Klafter Höhe, führte ins Unbekannte. Ein paar nasse Flecken verrieten Eustache, dass hier vor sehr kurzer Zeit jemand durchgekommen sein musste, der ebenso vom Regen durchweicht war wie er selbst.
„Na dann los“, ermunterte Eustache sich selbst so gut er konnte und machte sich auf den Weg. An der ersten Kreuzung blieb er stehen. Dann holte er sein Kreidestück aus der Tasche und setzte sich eine Markierung. Sich hier unten zu verlaufen und nicht mehr herauszufinden erschien ihm sehr wahrscheinlich und einigermaßen grauenvoll. Der Gang wurde allmählich enger. Seitenstollen zweigten ab, einige nicht mehr als zwei Ellen hoch und breit, als hätten sich Maden und nicht Menschen hier ihre Wege gebahnt. Jean-Marc würde sehr tief in die Tasche greifen müssen, oh ja!

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