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Carrièrs

13. Oktober 1737, später abends.

„Wir haben keine Zeit, das zu diskutieren! Sofort geht ihr auf euer Zimmer, alle beide!“ Catherines Geduldsfaden war eher eine Zündschnur und nur noch einen zollbreit von der Explosion entfernt. Aber Elian war es egal – wie üblich.
„Ich habe sie entdeckt!“, wiederholte er zum zigsten Mal, wobei er sich jedes Mal in der Lautstärke steigerte, womit er inzwischen ein Crescendo erreicht hatte.
Klatsch! Abrupt verstummte Elian und hielt sich mehr überrascht als erschrocken die Wange. Normalerweise wurde seine Mutter nicht handgreiflich. Dass sie dabei völlig kühl wirkte, beeindruckte ihn mehr als der Schlag selbst.
„Wir vergeuden Zeit! Und Annette hat vielleicht keine mehr. Thomas, sperr die Kinder in ihrem Zimmer ein, schließ ab und verwahre den Schlüssel eigenhändig!“, sagte Catherine kalt. Sie legte sich den zu großen Pelerinenmantel um, den der Erste Diener ihr gerade anreichte. Es musste sich um seinen eigenen handeln, wie sie flüchtig registrierte.
„Sehr wohl, Madame!“, sagte Thomas, unerschütterlich wie immer, aber mit einer Art befriedigtem Funkeln in den Augen. Für seinen Geschmack durften die Kinder viel zu viel in diesem Haus.
„Mademoiselle, Monsieur, wenn ich bitten darf!“, sagte er dann zu den beiden. Die warfen einen hilfesuchenden Blick zu ihrem Vater, aber der schüttelte ernst den Kopf. „Auf keinen Fall! Eure Maman hat vollkommen Recht. Ihr bleibt hier! Danke Thomas!“
Angesichts der Ohrfeige verkniff sich Elian das Gemaule, als der Erste Diener ihn mit etwas mehr als sanftem Nachdruck die Treppe hochschob. Constance ließ es nicht so weit kommen und ging allein. Aber wäre Catherine weniger abgelenkt gewesen, hätte sie schon an der Körperhaltung ihrer Tochter erkannt, dass sie sich mitnichten gefügt hatte, sondern bereits etwas im Schilde führte. So aber war ihr Blick auf das Straßenmädchen gerichtet, das immer noch auf dem Stuhl im Entree hockte und sich nun die Krümel von den Fingern leckte. Sie hatten sie mit Butterbroten und heißer Milch versorgt, nachdem sie ihnen ihre Geschichte von der angeketteten Dame im Tunnel erzählt hatte. Nach der ersten Bestürzung über die Umstände, unter denen sie Annette der Tourville begegnet war, hatten Catherine und Hugo sofort ihren Aufbruch vorbereitet, wozu gehörte, das magere Mädchen mit einer Mahlzeit zu versorgen. Puce waren angesichts des Butterbrottellers fast die Augen übergegangen. Außerdem hatte sie ein Umschlagtuch vom Hausmädchen bekommen. „Du bekommst ein Neues, Herrgott, stell dich nicht an!“, hatte Catherine dem Mädchen beschieden, als es zögerte, ihr Umschlagtuch – auch wenn es nur das ältere war – diesem verlausten Gassenkind zu geben. Aber gut, ein neues Tuch von der Herrschaft ganz außer der Reihe, fein!
Catherine fasste nun nach dem in ein Öltuch eingeschlagenen Bündel, das Kleidung für Annette enthielt, denn Puce hatte ihnen ja beschrieben, dass die Frau fast gänzlich entkleidet war. Heilige Jungfrau, hoffentlich lebte Annette überhaupt noch! Fast zwei Tage waren vergangen, seit Puce sie verlassen hatte. Zwei Tage!!!
„Warum bist du nicht sofort gekommen?“, hatte Catherine verzweifelt gefragt und das Mädchen um ein Haar geschüttelt.
„Ich gehe nicht zu reichen Häusern“, hatte Puce leise geantwortet.
„Können wir?“, fragte Hugo jetzt, während er sorgfältig zwei Pistolen so unter dem Mantel verstaute, dass sie nicht nass werden konnten. Das waren die Situationen in denen Catherine wieder wusste, warum sie Hugo damals geheiratet hatte: Wenn man ihn brauchte, war er da. Unkompliziert, pragmatisch, vorbehaltlos. Irgendwie vergaß sie das zwischendurch immer wieder. Wenn es ein Scheusal in ihrer Beziehung gab, war sie das. Aber das war ja genau das, was sie so aufbrachte. Doch jetzt war keine Zeit für solchen Unsinn.
„Ja, ich bin soweit“, sagte Catherine grimmig, die förmlich vibrierte, endlich aufzubrechen. Hugo hatte sie mühsam davon abhalten können, sofort loszustürmen, als klar wurde, dass Puce vermutlich die Wahrheit sagte.
„Wir müssen das vorbereiten, Catherine! Das Wetter ist fürchterlich und außerdem könnte es gefährlich werden. Schick einen Boten zu dem Commissaire, dann ziehen wir wetterfeste Kleidung an und überdenken alles gründlich, ehe wir loslaufen wie kopflose Hühner!“, hatte er gesagt, was ihm einen vernichtenden Blick seiner Frau eingetragen hatte. Trotzdem hatte sie eingesehen, dass er Recht hatte. Die Diskussion mit Elian und Constance hatten noch einmal Zeit gekostet und so war nun eine gute halbe Stunde vergangen, seit Hugo Puce beinahe im Keller eingesperrt hätte. Aber jetzt ging es endlich los. Claude hatte den Einspänner bereit gemacht, ehe er mit der Nachricht zu Jean-Marc aufgebrochen war. Den Weg kannte er jetzt ja schon.
Catherine, Hugo und Puce kletterten auf den Wagen und kaum saßen sie, ließ Hugo schon die Peitsche in der Luft schnalzen, sodass der Braune sich aus dem Stand weg in Trab setzte. Puce, die noch nie auf einer Kutsche gefahren war, klammerte sich erschrocken am Sitz fest. Hoffentlich musste sie nicht all die guten Butterbrote wieder von sich geben!
„Wohin jetzt?“, rief Hugo über das Rattern der Wagenräder hinweg, nachdem sie die Seine überquert hatten und sich stetig nach Süden auf Montrouge hinbewegten. Puce spähte durch den Regen und die Dunkelheit.
„Ich, ich weiß nicht“, stotterte sie. „Das ist so schnell. Ich weiß nicht, wo wir sind!“ Hart klappten ihre Kiefer aufeinander, als der Wagen über irgendeinen Hubbel auf der Straße fuhr.
„Mach mal langsam, Hugo!“, rief Catherine, die spürte, dass das Mädchen neben ihr ganz steif vor Angst war. Hugo zügelte den Braunen, der aufgeregt schnaubte – er war solch eine wilde Fahrt nicht gewöhnt.
Puce sah sich erneut um und dieses Mal erkannte sie, wo sie waren.
„Wir müssen da rüber!“ Sie deutete in eine Straße die halblinks abbog. „Danach müssen wir zu Fuß weiter!“
„Da! Und dann müssen wir zu Fuß weiter!“, rief Puce kurz darauf. Hugo blickte sich um, dann entdeckte er eine Art Torbogen, unter den er das Gespann lenkte. An einem hervorstehenden Ornament band er den Braunen behelfsmäßig an. Dann nahm er die Laterne, die immer im Wagenkasten lagerte, zündete sie an den Kutschlaternen an und hob den Arm, sodass er Catherines und Puces Gesichter sehen konnte.
„Und jetzt?“
„Da rüber!“
Puce führte sie durch einen schmalen Durchlass zwischen zwei Häusern. Sie gerieten in ein Gewirr aus unordentlich zusammengewürfelten Schuppen, kleinen Viehverschlägen, Unrathaufen und Holzstapeln. Es war hier stockduster und abgesehen von dem kleinen Lichtkreis, den Hugos Laterne warf, konnten sie rein gar nichts erkennen. Eher ihre Nasen verrieten ihnen, ob sie sich gerade entlang eines Schweinekobens, einer Abortgrube oder eines Hühnerhauses bewegten.
„Halt!“, befahl Puce, die jetzt, wo sie sich auf ihrem eigenen Terrain bewegte, erheblich an Sicherheit gewann. „Wir müssen da runter!“
‚Da runter‘ entpuppte sich als eine Art Kellereingang am Fuß eines verfallenen Hauses. Es gab keine Tür, nur eine schrundige, unebene Treppe, die Puce leichtfüßig, Hugo und Catherine sehr vorsichtig hinabstiegen. Am ersten Treppenabsatz stießen sie auf ein Gitter, das sehr verschlossen aussah. Doch Puce angelte mit ihrem dürren Arm hindurch, tat irgendwas und dann sprang das Gitter mit einem angemessenen Quietschen ein Stückchen auf. Hugo und Catherine zwängten sich durch den Spalt und Catherine war froh, auf den enormen Reifrock verzichtet und sich stattdessen für ein erheblich weniger voluminöses Reitkleid entschieden zu haben. Hinter dem Gitter war ein glitschiger, von Steinbrocken übersäter Absatz, der nichts Gutes in Bezug auf die Stabilität des Deckengewölbes verhieß. Ein modriger Luftzug streifte sie. Hugo hob die Laterne und wich dann instinktiv einen Schritt zurück. Keine drei Schritte vor ihm öffnete sich ein gähnendes Loch, das in seiner Schwärze die Dunkelheit der Regennacht draußen geradezu lächerlich machte. Puce schickte sich gerade an, ihre Füße auf die obersten Sprossen einer Leiter zu stellen, die aus dem Loch herausragte.
„Da müssen wir runter?“, fragte Hugo entsetzt? Puce nickte beinah fröhlich.
„Ja, das ist der kürzeste Weg. Es gibt andere Eingänge, leichtere, aber das ist viel weiter zu laufen – erst oben, dann unten. Keine Bange, die Leiter ist ganz in Ordnung und hat noch fast alle Sprossen!“ Damit verschwand sie im Schacht.

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