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Die Verfolgung geht weiter

13. Oktober 1737, später abends.

Jean-Marc war vermutlich noch keine halbe Stunde fort, als sich das Hoftor der d’Argencourts öffnete und einen Reiter hinausließ. Eustache musste sich zusammenreißen, um nicht ruckartig in seiner Nische aufzustehen. Vielleicht hätte der Reiter ihn trotzdem nicht bemerkt – das Pferd jedoch hätte ganz sicher gescheut. So aber passierte es ungerührt Eustaches Versteck, zumal der Reiter es kurz am Zügel hielt und ihm den Kopf mit der Kandare grob herunterzwang. Im leichten Trab, um auf dem Pflaster nicht zu viel Lärm zu verursachen, schlug der Reiter, den man unter seinem Pellerinenmantel und dem tief ins Gesicht gezogenen Hut nicht identifizieren konnte, die Richtung nach Nordosten ein. Eustache folgte ihm in einem Abstand, der ihm sicher erschien – aber wenn der Reiter sich für einen Galopp entscheiden sollte, würde es schwierig werden. Schon im Trab blieben Eustache kaum Zeit, an Wegkreuzungen Kreidezeichen für Jean-Marc anzubringen. Und ob die dem Regen trotzen konnten, stand auch nicht fest. Eustache fluchte innerlich. Sie hatten beide nicht erwartet, dass heute Nacht noch etwas passieren würde. Das rächte sich jetzt. Eustache konnte nur eins tun: Dranbleiben und das Beste daraus machen. Aber als der Reiter den Nouveau Cours de Mont Parnasse gen Saint Jacques einschlug, wurde es schwierig für ihn. Bislang war diese Straße nur spärlich bebaut und zu allem Überfluss konnte man hier ein Pferd wirklich laufen lassen. Unweigerlich nutzte der Reiter die leicht ansteigende Straße für einen Galopp. Eustache war gut zu Fuß – aber in der Dunkelheit an einem galoppierenden Pferd dranzubleiben brachte ihn an seine Grenzen.
„Und Jean-Marc liegt jetzt gemütlich in seinem Bett“, stieß Eustache zwischen zwei Atemzügen hervor, wie um sich damit selbst zu provozieren. Er drosselte seine Geschwindigkeit. Auf dieser Seite stieg die Straße recht sanft an, fiel jedoch auf der östlichen Seite einigermaßen abrupt ab. ‚Ein sorgsamer Reiter wird ein Pferd nicht jagen, wenn es steil bergab geht‘, kam ihm in den Sinn, was ein Bekannter von Jean-Marc, der Ecuyer an der Königlichen Reitschule in den Tuilerien war, mal gesagt hatte. Also gut, zumindest wenn es sich hier um einen sorgsamen Reiter handelte, bekam Eustache also bald die Gelegenheit, ihn wieder einzuholen.
Eustache wusste nicht, ob dieser Reiter sich daran hielt. Als er die Hügelkuppe der Straße zwischen Saint Germain und Saint Jacques erreichte, hatte sich der Regen derartig gesteigert, dass man weder etwas hören, noch etwas sehen konnte. Eustache hatte Mühe, überhaupt noch die Straße zu finden – von dem Reiter fehlte ihm jede Spur. Er konnte nur hoffen, dass der sich weiterhin an den Nouveau Cours de Mont Parnasse hielt und er ihn dort, wo es wieder Straßenlaternen gab, wieder aufstöberte. Mit zusammengebissenen Zähnen suchte Eustache sich vorsichtig seinen Weg auf der von Matsch und aufgeweichten Pferdeäpfeln glitschig gewordenen Straße. Es brachte niemandem etwas, wenn er sich den Knöchel brach.

Ulysses

Ulysses kam nicht oft in diese Gegend – einfach, weil er es tunlichst vermied, sie aufzusuchen. Einst, in einem früheren Leben, hatte er hier gewohnt. Gewohnt! Als könnte man das wohnen nennen! Gehaust. Vegetiert. Überlebt. Die Mietquartiere in diesen heruntergekommenen Häusern waren so überfüllt, dass die Anzahl der Menschen pro Zimmer nur von der der mitwohnenden Kakerlaken und Flöhe übertroffen wurde. Und wer sogar dafür zu arm war, zimmerte sich einen Verschlag irgendwo in einer Nische und verteidigte es mit Zähnen und Klauen gegen die, die nicht einmal das hatten. In einer verregneten, windigen Nacht wie dieser, war hier weniger Betrieb als sonst – aber sie waren da! Ulysses konnte sie spüren wie Käfer, die über seine Haut krabbelten. In seiner teuren Kleidung war er hier ein gefundenes Fressen und kein anderer reicher Mann hätte sich um diese Uhrzeit hierher gewagt. Aber Ulysses trug eine Handlaterne und sorgte dafür, dass sie stets sein Gesicht beschien. Nur ein sehr, sehr dummer Dieb oder Meuchelmörder hätte sich an ihm vergriffen und kurz darauf keine Gelegenheit mehr gehabt, es zu bereuen.
Ulysses hasste jede Sekunde, die er hier sein musste. Er hatte diese Sickergrube hinter sich gelassen, war aufgestiegen, war JEMAND! Er konnte lesen und schreiben, sogar auf Latein und Spanisch! Mächtige Menschen fürchteten ihn! Aber man entkam seinen Wurzeln nie voll und ganz. Und ab und an musste Ulysses, Diener und Leibwächter des mächtigen Rene Herault der Vaucresson, seine feinen Lederschuhe mit dem Dreck dieses Viertels besudeln, um mit Menschen zu sprechen, die denselben Wurzeln entstammten. Herault de Vaucresson beauftragte ihn nur damit, wenn es sich nicht vermeiden ließ – und darum tat Ulysses es, wenn es wieder einmal soweit war.
Schließlich erreichte er ein Haus, das ein bisschen weniger schäbig aussah als die anderen und an dessen Tür ein hölzernes Schild im Wind quietschend hin und herschaukelte. Darauf war eine Frauengestalt mit Heiligenschein zu sehen, zu deren Füßen sich ein undefinierbares Vieh wand, von dem aber jeder wusste, dass es ein Lindwurm sein musste – die Heilige Margarete, Schutzpatronin der Armen, Frauen und Nothelferin bei schweren Geburten. In einem Viertel, in dem so gut wie niemand lesen konnte, wäre ein Schild mit Aufschrift „Hebamme und Heilerin“ vergeblich gewesen. Außerdem war Coumba weit mehr als das. Aber von ihren anderen Diensten wusste die Obrigkeit besser nichts, denn selbst mitten in Paris war eine Frau, die Geister beschwor und Flüche verkaufte nicht davor gefeit, als Hexe entlarvt und verbrannt zu werden. Die Obrigkeit war wachsam, seitdem La Reynie vor mehr als 50 Jahren den legendären Giftmischer-Skandal aufgedeckt und ihre wichtigste Schlüsselfigur La Voisine als Hexe öffentlich verbrannt worden war.
Nun, was diese hier betraf, unterstand sie einem gewissen Schutz. Die Ziehschwester des Leibwächters des Lieutenant Géneràl de Police von Paris zu sein, barg eindeutige Vorteile. Ulysses und Coumba waren im selben Bordell aufgewachsen, hatten an denselben Brüsten gesaugt und sich später dasselbe Lumpenlager oder, wenn vorhanden, Bett geteilt. Als sie das richtige Alter erreichten, hatten sie das Bett dann auf andere Art und Weise miteinander geteilt und soweit Ulysses wusste, hatte Coumba eine Tochter, die vielleicht auch die seine war. Coumba benötigte für gewöhnlich keine Unterstützung, sie verdiente in ihrem Geschäft genug. Aber sie nahm dennoch die Zuwendungen, die Ulysses ihr regelmäßig zukommen ließ an und sorgte dafür, dass sie die richtigen Empfänger bekamen.
Jetzt klopfte Ulysses an die Tür unter dem Schild der Heiligen Margareta. ‚Kommt es dir nicht etwas seltsam vor, eine christliche Heilige über deine Tür zu hängen?“, hatte Ulysses sie damals gefragt, als sie es gemeinsam angebracht hatten. ‚Schau es dir an, Embe‘, hatte sie lachend erwidert und ihn dabei bei seinem Milchnamen genannt. ‚Unter ihren Füßen windet sich ein Drache, ein Dämon. Glaubst du wirklich, die Frau war so heilig wie die weißen Männer sie machen wollen? Nein, mein Freund, das war eine Frau, die mit allen Mitteln kämpfte und so eine bin ich auch! Außerdem beruhigt eine Heiligenfigur die schlichteren Gemüter‘
Die Frau, die ihm die Tür öffnete, war im Teint etwas heller als Ulysses und sie war zwar deutlich kleiner als er, aber für eine Frau immer noch recht groß. Ihr Haar war zu unzähligen schmalen Zöpfen geflochten, in den Perlen klackerten und bunte Tuchfetzen wie exotische Vögel nisteten. Wenn sie ausging, steckte sie alles hoch und verbarg es unter einer Haube. Aber nicht jetzt, nicht in ihrem eigenen Haus. Inzwischen waren eine Menge silbriger Zöpfe darunter, die Ulysses deutlich machten, dass die Zeit nicht spurlos an ihnen beiden vorbei ging. Doch ihr Mund mit den vollen Lippen verzog sich zu einem Lächeln, das wunderbarerweise noch fast alle Zähne enthielt und ihre Obsidian-Augen strahlten, als sie sah, wem sie ihre Tür geöffnet hatte.
„Embe! In solch einer Nacht? Dann muss es ja wichtig sein“, begrüßte Coumba ihn. Sie nannte ihn niemals Ulysses. ‚Das ist ein Sklavenname, warum behältst du den?‘, hatte sie ihn schon vor Jahren gefragt. ‚Mir gefällt die Geschichte, die hinter dem Namen steht‘, hatte er geantwortet und ihr dann die Kurzversion von Odysseus‘ Heldensaga erzählt. Sie war skeptisch geblieben, hatte die Sache aber nie wieder erwähnt.
„Monsieur findet es wichtig“, sagte Ulysses sparsam.
„Na dann“, versetzte Coumba trocken. Ulysses ignorierte den Spott. Sie bot ihm einen heißen Wein an, der wie üblich gut war und er erklärte ihr, was er brauchte. Coumba öffnete die Tür, pfiff kurz, es gab eine Pause, dann ein paar leise gesproche Worte, danach schloss die schwarze Frau, der niemand im Viertel einen Wunsch abschlug, die Tür wieder. Sie versorgte ihren Gast mit den nötigen Annehmlichkeiten, dann ließ sie ihn allein, um, was auch immer zu tun.
Ulysses verbrachte erst ein, dann noch eine angenehme und seltsam friedliche Stunde vor Coumbas Kamin. Ausnahmsweise legte er alle Verantwortung, alle Wachsamkeit ab – ein Zustand, den er sonst nicht einmal im Schlaf erreichte. Schlaf, ja, er musste dann wohl eingeschlafen sein. Er wachte auf, ehe Coumba ihn an der Schulter berühren konnte und für einen Moment spannten sich alle Muskeln in ihm an und er war sprungbereit. Dann erkannte er das Gesicht seiner Ziehschwester. Flüchtig nahm er wahr, dass er in eine bunte Webdecke gehüllt war. Ein kurzes Bedauern stieg in ihm auf, dass die Auszeit nun beendet war.
„Ja?“, fragte er.
„Es ist jemand da, mit dem du sprechen willst. Er wartet nebenan.“
‚Nebenan‘, das war das Zimmer, in dem Coumba von Entbindungen bis zu Schwarzen Messen alles tat, was ihre Kunden von ihr wünschten. Vielleicht waren einige enttäuscht, dass es nicht geheimnisvoller aussah – weder gab es schwarze Kerzen noch heidnische Symbole. Es war einfach ein Zimmer, wenn auch mit einem wandfüllenden Schrank voller kleiner Schubladen und Fächer, hinter denen sich alles Mögliche verbergen konnte. Es gab einen Tisch mit mehreren Stühlen und auf einem davon saß eine dürre junge Frau. Sie war weiß und in allem das Gegenteil von dem, was Ulysses vielleicht erwartet hatte. Ihre mageren Hände, die weiß vor Kälte und rissig von irgendeiner harten Arbeit waren, umklammerten einen Becher, aus dem es heiß dampfte. Wärme an solch einem Abend war ganz offenbar ein Luxus, den diese Frau nur selten genießen durfte. Alles an ihr sagte aus, dass sie zu jenen gehörte, die sich nicht einmal die erbärmlichen Mietquartiere dieses Viertels leisten konnte. Und sie war in einem fortgeschrittenen Stadium schwanger. Als Ulysses eintrat, blickte sie ihn mit stumpfen, hoffnungslosen Augen an. Vermutlich war sie höchstens 20, aber sie sah aus, als habe sie den ganzen Weg zur Hölle und zurück zu Fuß zurückgelegt. Ulysses wählte einen Stuhl, der dem ihren gegenüber, aber nicht zu dicht vor ihr stand. Teils, weil er sie nicht verschrecken oder bedrängen wollte, teils, weil er keine Lust auf ihr zweifellos vorhandenes Ungeziefer hatte.
„Ich bin Ulysses und ich suche jemanden. Weißt du, worum es geht?“, kam er ohne Umschweife zur Sache. Ein langer Moment verging, in dem nur der Dampf aus dem Becher aufstieg und ab und an ein Scheit im Kamin knackte.
„Ja. Du suchst einen Mohren“, sagte sie mit flacher Stimme. Erneut hielt sie inne. Dann löste sie eine Hand von dem Becher und strich sich damit in jener gedankenverlorenen Geste, die werdende Mütter vollziehen, über ihren Bauch.
„Du suchst meinen Mann.“

Jean-Marc

Jean-Marc hatte noch nicht einmal die Hälfte seines Heimwegs zurückgelegt, als er plötzlich innehielt und laut fluchte.
„Ich bin so ein Idiot!“, teilte er einem nassen Marienbildnis mit. „Entschuldige, Heilige Gottesmutter!“, fügte er dann hinzu und schlug rasch ein Kreuz. „Aber wieso ging ich davon aus, dass Lagrange jetzt brav nachhause geht?“ Mit einem innerlichen Seufzer, der sich auf den Verlust seines Nachtschlafs bezog, bog Jean-Marc an der nächsten Kreuzung anders ab als zuerst beabsichtigt. Statt zu seiner kleinen Wohnung in der Rue Chapon blieb er am südlichen Seine-Ufer, wo in einer sehr respektablen Straße ein gewisser Inspecteur de Police wohnte. Die Adresse hatten Jean-Marc und Michel sich bereits am ersten Tag der Ermittlungen herausgesucht, aber bislang war keiner von ihnen dort gewesen. Keine Notwendigkeit. Aber aus einem unbestimmten Gefühl heraus zog es Jean-Marc nun dorthin. Als er vor dem Haus ankam fragte er sich allerdings, wie es nun weitergehen sollte. Es war spät inzwischen – wenn auch nicht zu spät für die vornehmeren unter den Parisern. Nur arme Leute gingen früh zu Bett, weil sie am nächsten Morgen auch früh hinaus mussten. Außerdem sparte das Kerzen und Brennholz. Die reichen Pariser hingegen waren jetzt auf Gesellschaften, im Theater oder bei einem Diner, das zu diesem Zeitpunkt kaum den dritten Gang erreicht haben dürfte. Wo in diesem Gefüge war wohl der ehrenwerte Inspecteur de Police Malpart einzuordnen. Zumindest brannte hinter den Fenstern der zweiten Etage, die Jean-Marc Malparts Wohnung zuordnete, noch Licht. Eine scharfe Windböe trieb Jean-Marc unvermutet einen Regenschwall ins Gesicht und er musste blinzeln, um wieder klar zu sehen. Gerade, als er sich das Wasser aus den Augen gewischt und seinen verrutschten Schal wieder unter den Mantel gestopft hatte, erhaschte er eine Bewegung: Die Tür des fraglichen Hauses öffnete sich. Der Eingang lag genau im dunkelsten Teil zwischen zwei Straßenlaternen, die bei diesem Wetter ohnehin nur wenig Reichweite hatten. Jean-Marc konnte also kaum erkennen, wer hinaustrat. Es handelte sich ziemlich sicher um einen Mann. Verborgen im schlechten Wetter folgte Jean-Marc ihm ein Stückchen. Aber selbst im Schein der nächsten Laterne hätte er das Gesicht wohl nicht erkennen können, hätte der Mann nicht ausgerechnet dort einen wachsamen Rundumblick geworfen und dafür den Kopf aus dem Mantelkragen gereckt: Lagrange!
Jean-Marc atmete tief durch. Lagrange war nach seinem kleinen Verhör nicht zu Baron d’Argencourt gegangen STATT zu Malpart. Er hatte lediglich eine Reihenfolge gewählt. Ein befriedigtes Lächeln stahl sich auf Jean-Marcs regennasses Gesicht. Herault de Vaucresson würde entzückt sein zu erfahren, dass der ehrgeizige Inspecteur offensichtlich doch irgendwie in die ganze Sache verwickelt war. Jetzt musste er nur noch herausfinden, wie. Er dachte einen Moment nach, dann zog er eine Grimasse. Es war zu nass, zu kalt und zu spät, um diplomatisch zu sein. Er ging zur Haustür, die Lagrange eben hinter sich geschlossen hatte und betätigte den Türklopfer. Vermutlich war das eine dumme Idee, aber er hatte gerade für die besseren keine Geduld.

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