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Der Inspecteur und der Commissaire

Jean-Marc

Anmerkung: Bei Jean-Marc handelt es sich um ein Kapitel, von dem noch nicht feststeht, ob ich es so hineinnehme, oder es nur der Festlegung der Person dient. Jean-Marc, kam bereits in „Tödliche Reitkunst“ vor. Dort war er noch ein junger, schlaksiger Polizeianwärter, eine Élève de Police. Nun ist er Commissaire. Dieses kurze Kapitel dient sowohl mir als auch eventuellen Lesern beider Bücher dazu, Jean-Marcs Entwicklung zu umreißen.

„Die Sache mit dem Parfum hat ihn völlig verwirrt. Das war wieder großartige Arbeit, Jean-Marc“, sagte Michel Michaud, als sie die Verhörzelle in den frühen Morgenstunden endlich verließen. Sie hatten endlich ihr Geständnis bekommen, nachdem sich der Magistratsschreiber, der sich noch am Abend zuvor so sicher gefühlt hatte, in Widersprüchen verstrickt hatte.
„Einen Moment lang habe ich allerdings geglaubt, du würdest ihn wirklich mit dem Stock verprügeln“, fügte Michel hinzu und warf seinem jüngeren Partner einen schrägen Blick zu. Der ließ seine Schultern noch mehr als gewöhnlich nach vorn hängen – sie waren beide völlig erschöpft und Jean-Marc hatte schon in bester Verfassung keine sonderlich gute Haltung.
„Ich hasse Männer, die Frauen vergewaltigen und umbringen“, sagte Jean-Marc düster.
„Aber du hasst auch körperliche Gewalt bei Verhören“, sagte Michel Michaud, der selbst rein gar nichts von brutalen Verhörmethoden hielt.
„Weil sie nichts bringt. Das bedeutet nicht, dass die nicht manchmal einer von den Dreckskerlen verdient hätte!“ Jean-Marc nuschelte vor Müdigkeit und es lag kein Nachdruck in seiner Stimme. Michel sagte nichts mehr weiter dazu. Sie waren beide todmüde und schließlich hatte Jean-Marc nicht zugeschlagen. Aber es war schon auffällig, wie schlecht gelaunt sein Partner seit ein paar Wochen war. Aber jetzt war wohl nicht der richtige Zeitpunkt, ihn darauf anzusprechen.
„Für heute machen wir Schluss. Wir brauchen beide dringend eine Mütze voll Schlaf. Geh nach Hause und leg dich hin! Ich gehe jetzt noch zu Herault und erstatte ihm Bericht und dann mache ich dasselbe. Wir sehen uns morgen früh dann wieder!“ Nominell war Michel zwar nicht mehr sein Vorgesetzter – sie standen beide im Rang eines Comissaires – aber es war meistens immer noch Michel Michaud, der die Führungsrolle übernahm – aus Gewohnheit und weil er der Ältere war, vielleicht. Vielleicht aber auch, weil Jean-Marc für organisatorische Dinge überhaupt keinen Sinn hatte. Und die Berichterstattung an den Lieutenant Géneral, René Hérault de Vaucresson, überließ er Michel sowieso gern.
„In Ordnung“, murmelte Jean-Marc. Ganz kurz warf er seinem Partner ein schiefes Grinsen zu, das wohl ‚bin in Ordnung‘ signalisieren sollte. „Salut, Michel“, fügte er noch an, dann trennten sie sich an einem Treppenaufgang: Michel ging nach oben, um bei Hérault de Vaucresson vorstellig zu werden, Jean-Marc ging geradeaus zum nächsten Ausgang der Präfektur.
Jean-Marc wohnte noch immer in dem Hinterhaus der Rue Chapon, das er bereits als Eléve de Police bewohnt hatte. Er hätte sich mittlerweile längst etwas Besseres leisten können, denn Herault de Vaucresson bezahlte seine beiden Sonder-Comissaires sehr ordentlich. Aber Jean-Marc sah keinen Sinn darin, Geld für eine größere Wohnung in besserer Lage auszugeben, wenn er doch ohnehin nur selten zuhause war. Er bezahlte inzwischen Madame Paquet, die Frau seines Nachbarn, damit sie die beiden Zimmer sauber hielt und seine Wäsche besorgte. So viel Luxus gönnte er sich mittlerweile, denn wenn er auch nichts auf ein modisches Aussehen gab, so doch auf ein respektables Erscheinungsbild. Unbewusst hatte er längst Michels Stil kopiert – schon allein deshalb, weil er selbst zu bequem war, sich einen eigenen zu überlegen. Er trug überwiegend Justaucorps in Brauntönen, Culottes und Westen in Beige oder Creme, dazu meist Stiefel, einfach weil sie auf den Straßen von Paris robuster und praktischer waren als die modischen Schnallenschuhe. Inzwischen besaß er mehr als eine Kleidergarnitur, verzichtete aber nach wie vor auf Maßkleidung und hatte lediglich den Kleiderhändler gewechselt, sodass er jetzt Sachen aus zweiter statt vierter oder fünfter Hand trug. Nur die Stiefel ließ er sich von einem Schuster im Marais auf Maß fertigen, denn wunde Füße konnte er in seinem Beruf nicht gebrauchen.
Jean-Marc blieb auf dem Pont Neuf, der die Ile da la Cité mit der Stadt auf beiden Seiten verband, stehen. Der aufdringliche Nieselregen der letzten Tage hatte endlich aufgehört und ein bleicher Glanz lag auf dem Wasser der Seine, die unbeteiligt zwischen den Brückenbögen hindurchfloss, zu beschäftigt, ihren Weg zum Meer zu bahnen, als dass sie sich um diese Stadt an ihren Ufern groß gekümmert hätte. Ein kühler Wind wehte über die Brücke und Jean-Marc atmete tief ein. Die Verhörräume der Präfektur hatten kein Tageslicht und die Luft war geschwängert vom Angstschweiß unzähliger Menschen, die dort versuchten, ihre Unschuld zu beteuern. Meist vergebens. Was von der Seine aufstieg war zwar auch nicht gerade Blütenduft, denn genau genommen war sie hier im Zentrum nichts weiter als eine übergroße Kloake von Paris. Aber gerade jetzt trug der Wind frische Luft von irgendwo weit jenseits der Stadt heran und Jean-Marc überlegte, ob sie wohl den ganzen Weg von der normannischen Küste herangeweht wurde. War Catherine inzwischen aus der Normandie zurückgekehrt? Sollte sie doch wohl, oder? Sie hatte von Anfang Oktober gesprochen, als sie sich im Juli zuletzt gesehen hatten. Aber bislang hatte sie ihm noch kein Billett geschickt. Und genau das war der Grund für seine düstere Laune. Das wusste Jean-Marc sehr gut – aber nicht einmal Michel gegenüber hätte er das je zugegeben. Und der war genau genommen sein einziger echter Freund. Aber Catherine – nur wenn er mit ihr zusammen war, fühlte er sich vollständig und heil. Was völlig verrückt war, denn in Wahrheit war es genau seine Beziehung zu ihr, die ihn seit 8 Jahren unablässig zerriss. Er liebte sie, sie liebte nur den Sex mit ihm. Er war nur mit ihr vollständig, aber sie war mit einem anderen verheiratet. Er war ein Comissaire de Police aus sehr einfachen Verhältnissen, sie war eine geborene Comtesse. Er agierte im Schatten der Verbrecherwelt von Paris, sie stand im Rampenlicht der Salons und der feinen Gesellschaft. Jean-Marc wusste das alles, aber er brachte es nicht fertig, einen Schnitt zu machen. Im Gegenteil war er wie ein Opiumsüchtiger und seine letzte Dosis war inzwischen einfach zu lange her. Er brauchte dringend eine Auffrischung dieses süßen Gifts namens Catherine. Wenn bis morgen keine Nachricht für ein neues Stelldichein kam, würde er ihr eine schicken, egal ob sie das wollte oder nicht!
Mit dieser inneren Absichtserklärung ging es Jean-Marc etwas besser. Er beschloss, einen Umweg über ein ganz bestimmtes Café zu machen und dort völlig überteuert, aber köstlich weißes, gebuttertes Rosinenbrot und einen Kaffee zu nehmen, ganz so, wie es die feinen Pariser zu tun pflegten. Das würde ihm auch genügend Abstand zu den vergangenen 3 Tagen verschaffen, die einerseits abscheulich, andererseits sterbenslangweilig gewesen waren.

Der Inspecteur und der Commissaire

Natürlich brandeten die Gäste des Salons wie eine Flutwelle über den Flur und zum Schreibzimmer, sobald Elians Worte durchsickerten. Catherine versuche, sie zurückzuhalten.
„Mesdames, Messieurs, bitte lasst mich zuerst nachsehen. Ich bin sicher, das Kind erlaubt sich einen sehr schlechten Scherz.“ Dabei warf sie ihrem Sohn einen sphinxengleichen Blick zu, aber Elian weigerte sich, zu versteinern.
„Sie ist tot!“, beharrte er stattdessen. “Sie liegt da so.“ Elian warf den Kopf in den Nacken, verdrehte die Augen und verrenkte grotesk die Arme. Catherine packte ihn an den Schultern und drehte ihn resolut zur Tür. Da stand nun auch noch Constance!
„Sie ist wirklich tot, Maman“, sagte sie mit dieser ruhigen Bestimmtheit, die nie recht zu einem Kind dieses Alters passen wollte.
„Constance, du nicht auch noch! Elian, es reicht! Ihr geht jetzt auf der Stelle nach oben und legt euch schlafen.“
„Aber Maman, wir haben sie nun schon gesehen und wir wollen…“, begann Constance eine ihrer üblichen zähen Verhandlungen. Catherine schnitt ihr das Wort ab.
„Genug! Ich möchte nichts mehr von euch hören oder sehen.“
Zum Glück nahm sich Charles an dieser Stelle seiner Schwesterkinder an – er hatte da ein ähnlich gutes Händchen wie Hugo. Die beiden meuterten zwar noch, gingen aber immerhin mit ihrem Onkel mit. Lieber Gott hab Dank für kleine Gnaden!
Weniger leicht war es, die morbid angezogenen Gäste zurückzuhalten. Catherine hätte ihnen wohl nicht standhalten können, aber Malpart verschaffte sich mit zwei, drei langen, soldatischen Schritten einen Vorsprung vor der Meute. Dabei drängte er auch Catherine kurzerhand zur Seite, drehte sich zu den Leuten um und hob gebieterisch die Hand. Die Welle stockte. Catherine verkniff sich ein unwilliges Schnaufen. Vielleicht fand sie den Inspecteur doch nicht so anziehend wie zuerst gedacht. Was dachte sich der Kerl dabei, sie so beiseite zu schubsen?
„Aber meine Damen und Herren, ich darf doch sehr bitten. Wenn man einen Inspecteur de Police im Hause hat, sollte man derlei Unerfreulichkeiten auch ihm überlassen. Ich werde also zunächst einmal nachsehen, ob wir es mit der blühenden Fantasie eines Kindes oder einer tatsächlichen Toten zu tun haben. Madame du Foix, solch ein Anblick ist unter Umständen sehr verstörend. Wenn Ihr mich erstmal allein…“ Weiter ließ Catherine ihn nicht kommen.
„Es ist mein Schreibzimmer, es handelt sich um einen meiner Gäste oder Bediensteten, und ich versichere Euch, dass ich selbst im schlimmsten Falle nicht in Ohnmacht fallen werde, Monsieur le Inspecteur!“, sagte sie kalt und benutzte ihren weit ausladenden Rock, um nun ihn beiseite zu fegen, um als erste auf den Flur zu treten. Die aktuelle Mode verschaffte einer Dame bei geschicktem Einsatz durchaus strategische Vorteile.
Während also hinter ihnen der Lärmpegel rapide anschwoll, weil angesichts einer so aufregenden Situation intellektuelles Murmeln einfach keine Option war, öffnete Catherine ohne weiteres Zögern die Tür zum Schreibzimmer. Der Raum war in sanften Blautönen gehalten, so dass er schon bei Tage eher gedämpft wirkte. Seine Bezeichnung verdankte er dem auf geschwungenen Beinen stehenden weiß-goldenen Tisch, der in einer Fensternische so platziert war, dass er möglichst lange vom Tageslicht profitierte. Aber es war eine bequeme, mit rauchblauer Seide bezogene Sitzgruppe vor dem von grauem Trigache-Marmor gefassten Kamin, der das Herz des Raumes bildete. Das Herz und den Blickfang, und genau hier wölbte sich ein breiter Reifrock in Mintgrün, Rosa und Rost quer über das lehnenlose Fußende der Recamiére als hätte jemand einen übergroßen Lampenschirm achtlos hingeworfen und vergessen. Der Oberkörper der Trägerin hing über das Sitzmöbel hinaus, der Kopf lag in verdrehter Pose halb auf dem Boden, sodass sich die gelösten Haare dort ausbreiteten. Die herabhängenden Arme wirkten wie die einer beschädigten Puppe, nutzlos und irgendwie falsch positioniert. Ein großer Blutfleck verunzierte als grober Misston die blaue Seide des Möbels. Catherine sollte auf Monate ein schlechtes Gewissen haben, weil ihr erster Gedanke beim Anblick der in ihrem Blut liegenden Aurelie war: ‚Bezug und Polster sind komplett ruiniert!‘
„Mon Dieu!“, sagte Malpart, der nur einen Wimpernschlag nach ihr die Szene erblickte. „Das ist doch genau jene junge Frau, die von dieser anderen Frau davon abgehalten wurde, zu ihrem respektablen Verlobten zurückzukehren?“
Catherine, noch auf seltsame Weise gebannt von dem Anblick der hingestreckten Aurelie, brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass Malpart mit ‚dieser anderen Frau‘ von Annette sprach. Der Inspecteur ließ in seinem Ton klar erkennen, was er von der Liebe zwischen zwei Frauen hielt. Nun gut, natürlich war sie vor dem Gesetz streng verboten, aber im aufgeklärten Paris gehörte die Bekanntschaft zu ein oder zwei Lesbierinnen fast schon zum guten Ton. Doch vielleicht musste Malpart in der Eigenschaft seines Amtes solch eine Haltung einnehmen? Vorhin war er ja eher hilfsbereit gewesen als es galt, den unvermittelt aufgetauchten Bräutigam in seine Schranken zu weisen.
„Wo sind beide? Wo ist Annette und wo ist der Lieutenant?“, sprach sie die naheliegende Frage laut aus. Einen Moment durchzuckte sie die Panik, dass auch ihre Freundin tot in einer Ecke liegen könnte. Aber ein rascher Blick durch den Raum stellte klar, dass sich sonst niemand hier befand, weder tot noch lebendig.
„Der Lieutenant hat etwa eine Viertelstunde nachdem sie sich in diesem Raum hier zurückgezogen hatten, gegangen. Ich konnte seinen Abgang durch das Fenster des großen Salons beobachten
„Ich weiß nur, dass sie Aurelie heißt. Hieß. Und Annette muss längst gegangen sein“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als an Malpart gerichtet. Der schnob durch die Nase.
„Eher geflohen! Die beiden haben gestritten, das haben wir ja alle gesehen. Diese Sappho hat ihre Gespielin ermordet und ist dann geflohen, das ist ja wohl völlig klar. Ich muss sofort die Garde informieren, dass diese Person gesucht, gefunden und ihrer gerechten Strafe zugeführt wird! Annette de Tourville, richtig? Na die ist mir schon lange ein Dorn im Auge mit ihrem sodomistischen Lebenswandel! Aber damit ist es jetzt vorbei!“
„Es heißt ‚sodomitisch‘ und streng genommen benutzt man diesen Ausdruck nicht im Zusammenhang mit lesbischen Beziehungen, da…“ Catherines Mund korrigierte praktisch selbstständig Malparts Fehler. Der Inspecteur de Police starrte sie an, als wäre sie gerade mit zwei Köpfen vom Mond zurückgekehrt.
„Wie könnt Ihr ein so abscheuliches Wort auch nur in den Mund nehmen! Vielleicht ist es kein Zufall, dass es in diesem Hause zu einer Bluttat kommen musste!“ Malpart schien ehrlich schockiert zu sein. Er ging zu der Récamiere, hob kurz den Kopf der Toten an, um ihr ins Gesicht zu sehen.
„Sie ist es jedenfalls zweifelsfrei. Wir werden herausfinden, aus welcher Familie sie kam. Wirklich ein Jammer, dass sie den ehrenwerten Lieutenant abwies. Welch harter Schlag für die Familie! Nun, zunächst müssen wir die Mörderin ergreifen!“ Mit weiteren Untersuchungen, wie etwa der Suche nach der Tatwaffe, hielt er sich nicht auf. Er drehte sich auf dem Absatz um und wollte offensichtlich zur Tat schreiten – zu welcher auch immer.
„Was macht Euch so sicher, dass Annette die Mörderin ist? Der Lieutenant könnte sie genauso gut ermordet haben! Das halte ich doch für viel wahrscheinlicher!“
„Ah ja?“ Der Ton des Inspecteurs nahm einen sarkastischen Ton an, als er in der Tür des Zimmers stehenblieb und sich zu Catherine umdrehte. „Und was bringt Euch zu dieser Wahrscheinlichkeit?“
„Natürlich sein Motiv! Er war schwer gekränkt, dass das Mädchen ihn sitzengelassen hat und sich stattdessen einer Frau zugewendet hat. Das verträgt kein Mann gut!“, sagte Catherine entschieden. Gleichzeitig kroch ihr eine Gänsehaut über die Arme. Nur zu gut erinnerte sie sich daran was geschehen war, als sie selbst vor 8 Jahren einen Mann in der Nacht vor der geplanten Hochzeit sitzengelassen und sich einem selbstbestimmten Leben in Paris zugewendet hatte. Oh nein, Etienne, besagter düpierter Bräutigam, hatte das kein bisschen gut aufgenommen. Sie wusste wirklich, wie Männer in solch einem Fall reagierten! Aber Malpart lachte nur kurz auf.
„Wirklich? Er hätte sicher einen guten Grund gehabt – aber glaubt Ihr wirklich, Eure Sapho-Freundin hätte schweigend dabei zugesehen und sich hernach gesittet und still nach Hause begeben?“ Jetzt troff seine Stimme vor Sarkasmus. Catherine zog scharf den Atem ein und biss die Kiefer zusammen. Leider hatte Malpart damit Recht. Niemals hätte Annette einfach schweigend zugesehen. Sie hätte gekämpft, einen riesigen Tumult veranstaltet und schließlich waren gleich über den Gang zu diesem Zeitpunkt ein gutes Dutzend Leute gewesen, die Dienerschaft noch gar nicht mitgerechnet, die alles hätten hören müssen. Aber da war nichts zu hören gewesen!
„Annette hat Aurelie auf keinen Fall umgebracht!“, widersprach sie dennoch, wenn auch etwas lahm. Malpart zog einen Mundwinkel und eine Augenbraue hoch, zuckte mit der gleichseitigen Schulter und lächelte dann höflich.
„Ihr kennt die Dame sicher besser. Meine Leute werden sie finden und verhören und dann werden wir schon herausfinden, was sich zugetragen hat.“
„Aber Ihr werdet gewiss auch diesen Lagrange befragen! Als Lieutenant der Stadtgarde wird er ja wohl leicht zu finden sein!“, insistierte Catherine, die es hasste, von oben herab behandelt zu werden. Noch dazu von einem Mann, den sie bis vor kurzem attraktiv gefunden hatte, nun aber erkennen musste, dass er auch nur einer jener Männer war, die das eigene Geschlecht von Grund auf für überlegen hielten.
„Wir werden ihn in jedem Fall einbestellen. Er könnte ein wertvoller Zeuge sein.“ Damit war Malpart endgültig aus dem Zimmer heraus.
Catherine blieb leicht benommen zurück. Jean-Marc! Sie musste Jean-Marc hierher rufen! Er würde diesen Ort sehen wollen, wie er jetzt war. Nämlich ehe zig Leute hindurch trampelten, ehe jemand die Tote bewegte und ehe dieses Bild, wie es sich jetzt darbot, zerstört wurde. Draußen hörte sie Malpart mit unnötigem Lärm Befehle erteilen, Dienerschaft aufscheuchen und herumpoltern. Gäste riefen nach ihren Mänteln, nach Droschken oder ihren eigenen Kutschern. Menschen lugten kurz in das Zimmer, stießen Ausrufe des Entsetzens aus, in die sich allenthalben auch morbide Faszination mischte. Catherine fand ihre Tatkraft wieder. Sie drehte sich um, schob jeden aus dem Zimmer, der sich hineinwagte und schloss dann energisch die Tür, drehte den Schlüssel herum und steckte ihn ein.
„Es tut mir unendlich leid, dass Ihr, meine lieben Freunde, in meinem Haus mit einer derartig unerfreulichen Sache behelligt werdet“, sagte sie über den Lärm der aufgescheuchten Gäste hinweg.
„Ja, aber was ist denn geschehen?“
„Wer ist es denn?“
„Wo ist Madame de Tourville?“
„Wer ist die Tote?“
„Ist sie denn tot?“ So schwirrten die Fragen durch den Flur wie stechlustige Wespen und Catherine hatte das Gefühl, sie sei der Pflaumenkuchen. Sie hob die Stimme: „Es ist jemand zu Tode gekommen, ja. Aber über die näheren Umstände weiß ich so wenig wie Ihr auch, Mesdames et Messieurs. Es tut mir wirklich leid, dass dieser erbauliche Nachmittag ein solches Ende finden muss, aber ich muss Euch nun bitten, zu gehen.“
„Niemand muss sich Sorgen machen. ICH werde mich um alles kümmern!“ Malpart, natürlich. „Die Polizei von Paris wird die Mörderin finden, das versichere ich Euch!“ Catherines Blick schoss in seine Richtung. Sie hatte mit großem Bedacht die schwammige Bezeichnung „zu Tode gekommen“ verwendet. Aber Malpart musste das Wort ‚ermordet‘ loslassen wie einen chinesischen Feuerwerkskörper, der erst zischend in die Luft stieg und dort grellbunt explodierte. Die Wirkung trat auch sofort ein.
„Ermordet!“
„Welche Mörderin?“
„Mon Dieu, ein Mord, direkt neben uns! Wie grauenhaft!“
„Wo ist die Mörderin?“
„Wer ist sie?“ Jetzt war der Wespenschwarm vollends außer Kontrolle. Catherine öffnete halb den Mund, aber sie kam überhaupt nicht dazu, irgendeine Frage zu beantworten. Malpart hingegen hatte keinerlei Schwierigkeiten damit.
„Nun!“, donnerte er so laut, dass für einen Moment alle Ausrufe verstummten. „Zwei Frauen, die nebenbei bemerkt in einem unnatürlichen Verhältnis zueinander stehen, und ein Mann, der der Verlobte der einen Frau ist, haben sich vorhin vor unser aller Augen in das Nebenzimmer begeben. Der Monsieur ist nach einer Viertelstunde gegangen, soviel ist sicher. Man kann annehmen, dass die Frauen im Streit zurückblieben, zumal sie bereits vorher einen Disput hatten.“
Woher wusste Malpart das, fragte sich Catherine. Hatte er schon vor ihr bemerkt, wie die beiden auf dem Canapé stritten und vielleicht etwas gehört? Wo hatte er im Salon gestanden? Sie wusste es n icht.
„Nun ist eine dieser Frauen tot und die andere auf rätselhafte Weise abgängig. Flüchtig, wie ich vermute.“ Der Inspecteur machte eine bedeutungsvolle Pause.
„Mesdames et Messieurs, Madame du Foix hat Recht: Es wäre besser, wenn Ihr nun alle nach Hause ginget. Ich versichere Euch, dass die Polizei von Paris, dass sich MEINE Leute, um diese Sache kümmern und die Mörderin aufspüren werden!“
Catherine starrte ihn fassungslos an. Wie konnte er in solch schwindelerregendem Tempo Tatsachen derartig verdreht darstellen? Und warum?
„Aber es ist doch noch gar nichts bewiesen!“, wollte sie eigentlich rufen. Aber angesichts der Reaktionen der anderen Gäste blieben ihr die Worte im Hals stecken. Niemand würde ihr auch nur zuhören.
Catherine verließ das Schreibzimmer vollends und schob sich in den rückwärtigen Teil des Flurs. Dort erwischte sie Claude, der im Durchgang zum Wirtschaftsbereich der Wohnung kauerte, um möglichst viel mitzukriegen. Die übrige Dienerschaft samt Küchenpersonal klebte dahinter und sah ihre Brotherrin mit weit aufgerissenen Augen an.
„Ist es wahr? Eine Tote?“, fragte Thomás, der Butler, so würdevoll wie möglich. Catherine nickte.
„Wann ist Monsieur Lagrange gegangen?“, fragte sie ihn leise.
„Um kurz nach 6. Es hatte kurz vorher zum Angelus geläutet.“
„War daran irgendwas auffällig? Hatte er es eilig?“
„Er schien aufgebracht zu sein. Es hatte, hrmm, einen recht heftigen Disput zwischen ihm und Madame de Tourville gegeben. Verzeiht Madame, aber ich kam nicht umhin, es zu hören, da die letzten Worte bei offener Tür gewechselt wurden, nachdem Madame de Tourville bereits nach dem Mantel des Monsieur gerufen hatte.“
„Sie hat nach seinem Mantel gerufen?“
„Ja, Madame. ‚Monsieur Lagrange möchte jetzt gehen, bitte bring seinen Mantel‘, sagte sie. Zuvor hatte sie geläutet.“ Thomás, pflichtbewusst und präzise wie immer.
„Und ging Monsieur Lagrange dann einfach? Hast du Aurelie, also die junge Mademoiselle dabei gesehen?“
„Monsieur Lagrange warf mir noch einmal die Tür zum Schreibzimmer vor der Nase zu. Sie stritten drinnen einige Minuten, dann kam Monsieur Lagrange hinaus, riss mir den Mantel aus den Händen und ging. Mit Verlaub, er warf die Haustür recht rüde ins Schloss.“
Ja, das hatten sie selbst im Gelben Salon gehört.
„Mademoiselle Aurelie habe ich weder gehört noch gesehen in diesen Momenten. Nur Madame de Tourville, die gleich bei der Salontür stand. Sie ist recht groß, wie Ihr wisst, und verdeckte mir den Blick in das übrige Zimmer“, berichtete Thomás weiter. Catherine nahm sich einen Moment Zeit zum Nachdenken.
„Und wann ging Madame de Tourville?“, fragte sie dann langsam weiter.
„Meiner Kenntnis nach gar nicht. Aber natürlich bewache ich nicht ununterbrochen die Eingangshalle. Sie könnte durchaus in einem Moment gegangen sein, in dem ich anderweitig beschäftigt war. Ich war längere Zeit im Weinkeller. Der Madeira hatte großen Anklang gefunden und ich musste eine neue Kiste öffnen, was einige Zeit in Anspruch nahm.“ Catherine nickte nachdenklich. Die Tür zum Schreibzimmer lag in der Halle weit vorn. Seine Erkerfenster gingen ebenso zur Straße wie die Eingangstreppe. Zu viele Rätsel und sie kannte jemanden, der sie mit Freuden lösen würde.
„Ich brauche deine jungen Füße! Renn so schnell du kannst zur Rue Chapon 36, zweites Hinterhaus, zweiter Stock links. Dort wohnt der Commissaire de Police Monsieur Liévre. Hol ihn her so schnell es geht. Sollte er dort nicht sein, musst du zur Präfektur auf der Ile de la Cité laufen und ihn dort aufspüren. Aber du musst ihn finden und herbringen. Sag ihm, in meiner Wohnung ist ein Mord geschehen. Schnell!“ Claudes Augen leuchteten auf.
„Natürlich Madame! Rue Chapon 36, Commissaire Liévre, Mord. Ich renne wie der Wind!“
„Thomás, bitte hilf den Gästen schnellstmöglich hinaus. Auch alle anderen, bitte, helft den Gästen in die Mäntel, besorgt ihnen Droschken, seht zu, dass sie nichts vergessen. Allez, vite!“
Catherine seufzte abgrundtief, als der letzte Gast endlich gegangen war. Malpart war längst weg, Dieu merci! Sie ignorierte die Tür zum Schreibzimmer und durchquerte den gelben Salon. Auf einem Tischchen stand die halb geleerte Karaffe mit dem Eau de Vie. Ohne Umstände klappte Catherine den silbernen Verschluss nach oben, griff nach einem der geschliffenen Gläser und füllte sich eine großzügige Menge der blassgoldenen Flüssigkeit hinein. Schon der flüchtige Geruch nach süßlichen Äpfeln und altem Fassholz streichelte beruhigend über ihre aufgekratzten Nerven. Als dann der erste Schluck von ihrer Zunge durch ihren Gaumen und von dort in ihre Kehle floss, stark und trotzdem ohne Schärfe, ganz vollsamtiger Geschmack, lockerte sich ihre Anspannung. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und nahm einen zweiten Schluck des Apfelbrandes, den ihr Halbbruder Nicolás im Pays d’Auge brannte. Er wurde von Jahr zu Jahr besser! Catherine gestattete sich einen kurzen Moment, in dem sie die gerade vergangene Zeit dort vor ihr inneres Auge, auf ihre Zunge, in ihre Nase und auf ihre Haut holte. Aber dann drängte die Gegenwart mit Macht in ihr Bewusstsein: In ihrem Haus war ein Mord geschehen! Nebenan lag eine Tote. Und Annette de Tourville, ihre gute Freundin Annette, war einfach verschwunden. Malpart würde inzwischen jemanden zu ihrer Wohnung geschickt haben. Sollte Annette dort sein, war sie unschuldig, so viel stand für Catherine fest. Annette war eine intelligente, unabhängige Frau. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass sie doch etwas mit Aurelies Tod zu tun hatte – was Catherine energisch für sich verneinte – wäre sie auf keinen Fall so dumm, dort einfach zu warten, bis man sie fand. Aber da sie ganz sicher nichts damit zu tun hatte, war sie vermutlich eben doch dort. Bloß dass es für Malpart feststand, dass sie die Täterin war und dann… Oh Himmel, hoffentlich kam Claude bald zurück und brachte Jean-Marc mit! Aber selbst wenn Claude geflügelte Füße wie der antike Gott Hermes gehabt hätte, konnte er frühestens in einer halben Stunde mit Jean-Marc wieder hier sein.
Charles kam in den Salon spaziert. Er erfasste mit einem Blick, wie seine Zwillingsschwester mit dem Glas im Schoß auf dem Polsterstuhl neben der Branntwein-Karaffe saß.
„Gieß mir auch ein Glas ein, Schwesterchen, sei so gut!“, sagte er. „‚An apple a day keeps the doctor away‘, sagen die Briten. Ich wundere mich, wie sie diesen weisen Spruch prägen konnten, ohne unser Eau de Vie de Sydre zu kennen!“ Er behalf sich selbst, noch ehe Catherine ihr eigenes Glas zwischen ihren Rockfalten unterbringen konnte und goss sich großzügig ein. Fragend hielt er die Karaffe in ihre Richtung, sie nickte und er goss ihr mit geübter Zielsicherheit nach. Seit er einen Schwager im Wein- und Spirituosenhandel hatte, waren Charles Ansprüche an geistvolle Getränke merklich gestiegen. In seinem Umfeld der Académie des Science gab es nichts, was seinen Gaumen befriedigte, was ihn davon abhielt, mehr als nötig zu trinken. Besuchte er jedoch Catherine und Hugo genoss er den Luxus umso lieber.
„Also, was ist nun passiert?“, fragte er schließlich, als er fand, dass sie lange genug zusammen geschwiegen hatten.
„Ich habe keine Ahnung. Nebenan liegt diese junge Geliebte von Annette, Aurelie, tot über dem Fußende der Recamière. Da ist eine Menge Blut, Annette ist verschwunden und das ist auch schon alles, was sich mit Gewissheit sagen lässt. Der Inspecteur de Police Malpart scheint allerdings einen göttlichen Blick der Erkenntnis zu haben und ist sich bereits sicher, dass Annette ihre Geliebte im Streit umgebracht hat. Er hielt es allerdings nicht für nötig, sich die Leiche näher anzusehen. Wir wissen also noch nicht einmal, ob sie erstochen oder erschossen oder was weiß ich wurde. Ich tippe allerdings auf erstochen, da wir sonst wohl einen Schuss gehört und alle anderen Möglichkeiten nicht so viel Blut auf meine Seidenbezüge vergossen hätten. Ich habe das Erkerzimmer abgeschlossen und den Jungen zu Jean-Marc geschickt. Ehe der nicht kommt, mache ich jetzt gar nichts.“ Der letzte Satz klang wie ein trotziger Beschluss. Dann fragte sie noch: „Wie hast du es geschafft, Elian und Constance ins Bett zu kriegen?“
„Nun, erst hat mir Elian en detaille erzählt, was er in deinem Zimmer gesehen hat, dann hat Constance es aus ihrer Sicht wiederholt, Dabei wurde deutlich, dass Elian zu einer, nun sagen wir, dramatischen Schilderung der Geschehnisse neigt, Constance jedoch so viel Fantasie hat wie ein Baumstumpf. Er sollte Schriftsteller werden. Seine Fantasie ist grenzenlos und sein Wortschatz schon jetzt erstaunlich! Constance hingegen könnte das Amt des Obersten Richters ansteuern.“
„Um Himmels willen. Ich muss hinauf und mich um die beiden kümmern. Sie müssen sich gefürchtet haben“
„Nein, den Eindruck hatte ich nicht. Natürlich wollten sie gern hinunter, und bei allem dabei sein. Das konnte ich verhindern. Jetzt habe ich die Kinderfrau vor die Tür gesetzt und ihr gesagt, wenn sie die Kinder heute Abend nochmal rauslässt, reißt du ihr den Kopf ab. Ich hoffe, das war in deinem Sinne.“ Charles leerte sein Glas.
„Absolut. Ich muss trotzdem zu den beiden hinauf. Gleich…“ Catherine schloss für einen Moment die Augen, atmete aus und genoss das Gefühl, ihre Spannung gleichsam aus sich heraustropfen zu lassen. Noch eine Minute, dann würde sie hinaufgehen. Noch eine Minute.

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