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Der Inspecteur und der Commissaire 2

Fortsetzung

„Monsieur Liévre!“
Es dauerte ein Weilchen, bis Jean-Marc wach genug wurde, um das störende Wummern als Klopfen an seiner Tür zu identifizieren. Es war nicht das erste Mal, dass er mitten in der Nacht aus dem Schlaf geklopft wurde, weil irgendwas geschehen war. Trotzdem würde er sich nie daran gewöhnen und hasste es, so aus dem Schlaf gerissen zu werden.
„Was?“, rief er unwirsch und versuchte, seine langen Glieder in eine Position zu ordnen, aus der es möglich war, aufzustehen. Wie üblich hatte er sich völlig in seine Decken und Laken verwickelt.
„Madame du Foix schickt mich. Es geht um Leben und Tod!“
Catherine! Catherine schickte nach ihm und es ging um Leben und Tod? Fast schlug Jean-Marc der Länge nach hin, als er überhastet aus dem Bett springen wollte, von einer tückischen Falte des Lakens jedoch zurückgehalten wurde. Zum Teufel mit dem Zeug! Nur in dem langen Leinenhemd, in dem er zu schlafen pflegte, stolperte Jean-Marc die wenigen Schritte von seinem Bett zu dem kleinen Entrée, fummelte an dem klemmenden Riegel herum und riss endlich die Tür auf. Da stand ein Junge, höchstens 14 Jahre alt, drahtig, mittelgroß – Jean-Marc hatte ihn noch nie gesehen und sofort keimte Misstrauen in ihm auf.
„Wer bist du? Was ist das für eine Geschichte mit Madame du Foix?“, raunzte er ihn an. Der Junge behauptete jedoch unerschrocken seinen Platz.
„Ich bin Claude, der Hausbursche. Madame du Foix schickt mich und sagt, ich soll Euch so schnell wie möglich zu ihr bringen. Bin den ganzen Weg gerannt und war wirklich schnell, das…“
Jean-Marc packte den Jungen am Kragen und schüttelte ihn leicht. „Leben und Tod, hast du gesagt. Was ist passiert, spuck‘s aus!“, sagte er, ohne laut zu werden.
„Im Schreibsalon von Madame du Foix liegt eine Tote“, kam Claude zur Sache.
„Eine Tote. Aber Madame du Foix geht es gut, ja?“ Noch immer hielt Jean-Marc den Jungen fest. Der nickte eifrig. „Ja, ja, ihr geht es gut. Die Tote war ein Gast. Aber Madame hat es ziemlich dringend gemacht, also dachte ich…“
„Halt die Klappe und warte!“
Auch Jean-Marc entschied sich fürs Laufen. Schon vor längerer Zeit hatte er sich eine Ledertasche fertigen lassen, die er sich eng an den Leib schnallen konnte, in der er einige wichtige Utensilien verwahrte, die er an Tatorten gern zur Hand hatte, und. Wieder einmal kam sie ihm hier zupass. Kein bisschen langsamer als der Junge, legte er den Weg bis zum Haus der du Foix in der Rue Saint Antoine in Rekordzeit zurück und sein Herz hatte dabei noch Zeit, alberne Seitensprünge zu machen. Catherine hatte ihn gerufen! Gleich sah er sie wieder. Endlich.
Jean-Marc hatte nicht wirklich erwartet, Catherine aufgelöst und an einem Riechsalzfläschchen hängend vorzufinden. Aber dass sie erstmal gar nicht erschien, um ihn zu empfangen, irritierte ihn dann doch etwas.
„Liévre, alter Freund, komm und genieße einen guten Schluck mit mir. Catherine ist oben bei den Kindern. Du kannst dir denken, dass die ein bisschen aufgescheucht sind.“ Charles rief aus dem gelben Salon und Jean-Marc konnte durch die geöffnete Tür sehen, wie Catherines Zwillingsbruder ihm winkte. Der Diener, der ihn eingelassen hatte, wies mit einer kleinen Verbeugung hinein und Jean-Marc entsprach der Einladung notgedrungen.
Die beiden Männer hatten sich bei einer früheren Gelegenheit, wo es um Mord, Intrige und Falschspiel gegangen war, recht gut kennengelernt. Sie waren sich grundsätzlich sympathisch, schätzten den jeweils anderen und ihre Gehirne pflegten häufig spontan in dieselbe Richtung zu arbeiten. Darüber hinaus lebten sie jedoch in völlig verschiedenen Welten und waren sich in den letzten 8 Jahren kaum begegnet. Jetzt konnten sie problemlos und ohne viele Worte gemeinsam hier sitzen und auf Catherine warten. Jean-Marc ließ sich von Thomas einen Kaffee servieren.
Es dauerte nicht lange, bis sie hörten, wie Catherine die Treppe herunterkam. Jean-Marc leerte seine Kaffeetasse und stand eben auf, als sie den Salon betrat. Einen winzigen Augenblick erlaubte sie ihren Augen, ihre wahren Gefühle für Jean-Marc zu offenbaren: innige Zuneigung und das Bedauern, dass sie sich nicht für das trafen, was sonst ihre Treffen bestimmte: Sex. Dann maskierte sie ihr Gesicht, denn nicht einmal Charles wusste, dass sie eine Liebesbeziehung zu dem Commissaire de Police unterhielt.
„Monsieur Liévre, ich danke Euch, dass Ihr so schnell kommen konntet. Hat Charles Euch bereits ins Bild gesetzt?“
„Madame du Foix, es ist mir eine Ehre“, antwortete Jean-Marc höflich, ging ihr die wenigen Schritte entgegen und küsste ihr mit einer Verbeugung die Hand. Er war mit derlei nicht aufgewachsen, aber er war ein guter Beobachter und hatte sich in den Jahren an Michel Michauds Seite eine Menge abgeschaut. Er wusste inzwischen durchaus, sich in den vornehmen Häusern der gehobenen Pariser Gesellschaft zu bewegen – und hier musste er vor Charles immerhin den Schein wahren.
„Monsieur de Falabraque konnte mir nur wenig sagen. Vermutlich ist es am besten, wenn ich mir selbst ein Bild mache? Ich glaube, dafür habt Ihr auch meine Anwesenheit erbeten?“ Jean-Marc tarnte das Lächeln, das sich bei Catherines Anblick auf sein Gesicht drängte als höfliches Interesse am Fall. Falabraque, mit ihrem Mädchennamen hatte er sie noch kennengelernt, ehe Hugo du Foix sie geheiratet hatte, um sie vor einem Scheusal zu schützen. Catherine nickte zu seiner letzten Frage.
„Ja, das ist so. Der Raum ist nahezu unberührt seit der Tat. Bitte folgt mir.“
Sie schloss die Tür zum Schreibzimmer auf und ließ Jean-Marc dann den Vortritt. Charles, der das hier ja auch noch nicht gesehen hatte, folgte ihnen und spähte nun über ihre Schulter, enthielt sich aber vorerst jeglichen Kommentars. Auch Jean-Marc ging nicht mehr als zwei Schritte in den Raum und blieb vor dem Rand des blauen Perserteppichs, der den Parkettboden im Bereich der Sitzgruppe bedeckte, stehen. Dort ließ er sich Zeit, das ganze Bild zu erfassen. Man hätte meinen können, er stünde einfach nur da, aber Catherine wusste, dass er sich jedes Detail, das er in diesem Moment wahrnahm, genau ins Gedächtnis prägte. Er hatte leider kein Talent, sich eine Skizze auf Papier zu werfen, wie Michel Michaud das zu tun pflegte. Aber dafür war sein Gedächtnis beachtlich.
„Ihr habt hier nichts verändert, seit Ihr die Tote entdeckt habt, nein?“, fragte er schließlich. Catherine schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin nur bis ungefähr da gegangen, wo Ihr jetzt steht. Inspecteur Malpart ging allerdings bis zu, nun, zu der Toten und hob kurz ihren Kopf an. Danach kam er aber sofort wieder zurück.“ Jean-Marcs Kopf ruckte herum.
„Inspecteur Malpart? Lucien de Malpart, Inspecteur de Police? Der Malpart?“, fragte er und klang alarmiert.
„Ja, der Malpart. Er war zu Gast bei meinem heutigen Salon. Er kam als Begleitung zu unserer Vortragenden, Cecile d’Elyssee. Sie ist wohl seine Schwägerin. Als Elian hereinplatzte und lauthals verkündete, dass hier eine Tote liege, schob sich Malpart direkt in den Vordergrund und machte sich wichtig.“
„Ja, das denke ich mir“, sagte Jean-Marc trocken. „Elian hat die Tote gefunden? Hat er hier etwas angerührt?“
„Das weiß ich nicht. Aber es sah nicht danach aus, als ich hereinkam. Er hatte es wohl viel zu eilig, seinen sensationellen Fund als Grund zu nehmen, den Salon zu sprengen“, erklärte Catherine ein wenig grimmig. Jean-Marc nickte.
„Es wurde also kein geöffnetes Fenster geschlossen, nichts verrückt, kein umgestoßenes Möbel aufgerichtet – nichts dergleichen?“
„Nein, ich weiß ja, dass du alles gern unberührt vorfindest.“ Sie bemerkte augenblicklich, dass sie Jean-Marc eben geduzt hatte, fand aber, dass eine Korrektur viel auffälliger wäre als es dabei zu belassen. Charles hatte es entweder gehört oder nicht.
„Das ist richtig. Gut, dann werde ich mir die Tote nun ansehen. Wer ist sie?“
Catherine wiederholte die wenigen Fakten des Falles für ihn, und er nahm sie vorerst unkommentiert zur Kenntnis. Stattdessen ging er in die Knie, bückte sich dabei sogar noch und begutachtete den Teppich aus der Perspektive einer Maus.
„Kann man etwa Fußabdrücke auf dem Flor erkennen?“, frage Charles neugierig und war versucht, es Jean-Marc nachzutun. Seine wissenschaftliche Neugier war sofort erwacht.
„Ja. Sagt mir, Madame du Foix, wer geht für gewöhnlich in diesem Raum ein und aus?“
„In erster Linie ich selbst. Aber natürlich betreten ihn auch das Hausmädchen, das ihn sauber hält, der Diener, der den Kamin reinigt und frisches Holz hereinbringt. Außerdem kommen meine Kinder gelegentlich hier herein, auch wenn ihnen das eigentlich untersagt ist.“ Catherine schnitt kurz eine kleine Grimasse, ehe sie fortfuhr: „Und heute habe ich das Zimmer Madame de Tourville, Mademoiselle Aurelie und einem Lieutenant Lagrange zur Verfügung gestellt, als diese Bedarf für ein diskretes Gespräch hatten.“
Jean-Marc nahm diese Informationen zur Kenntnis. Dann hatte er die Untersuchung des Teppichs offenbar für den Moment abgeschlossen und ging nun zu der Toten.
„Wie heißt sie weiter? Zu welcher Familie gehört sie?“
„Ihr Nachname lautet wohl d‘Argencourt. Ihrem Auftreten und ihrer Sprache nach hat sie eine gehobene Erziehung genossen. Annette würde sich auch nicht mit einem ungebildeten Mädchen aus den niederen Schichten abgeben. So weit geht ihre Liberalität dann doch nicht.“
Jean-Marc war Annette de Tourville bereits einige Male begegnet und nickte nur.
„Was war das für ein Streit, den die beiden hatten? Und wer ist dieser Monsieur Lagrange?“, fragte Jean-Marc, wobei er aufmerksam die Sitzgruppe, die Recamiere und das Beistelltischchen musterte. Letzteres war um eine gute Armlänge zur Seite gestoßen worden, wie die Abdrücke im Teppich verrieten, jedoch nicht umgestürzt. Da der Unterbau aus demselben grauen Marmor bestand wie die Kamineinfassung, war das kein Wunder: Das Ding dürfte mehr wiegen als ein erwachsener Mensch. Bei näherem Hinsehen konnte Jean-Marc Blut daran erkennen.
„Ich weiß es nicht genau.“ Catherine wusste selbst nicht, warum sie in diesem Moment das hässliche Wort ‚Erpressung‘ nicht wiedergeben wollte. „Aurelie fand sich wohl von Annette bevormundet. Sagte, das hätte sie zur Genüge durch ihren Vater gehabt. Woraufhin Annette sie schalt, sich wie ein Kind zu benehmen. So in etwa. Charles, du hast doch vorher mit den beiden diskutiert – war da irgendwas von Streit zu merken?“ Catherine nahm sich vor Jean-Marc erst bei der nächsten Gelegenheit von Annettes Vorwurf zu erzählen.
„Nein, ich habe nichts gemerkt. Oder na ja, vielleicht doch?“ Charles schien nachzudenken und niemand störte ihn. „Die Mademoiselle hat ein-, zweimal versucht, sich in den Disput über Voltaire einzumischen, aber es war deutlich zu merken, dass sie nicht allzu viel Ahnung von der Sache hatte und das hat Madame de Tourville ihr dann auch deutlich beschieden. Daraufhin wendete sich Mademoiselle Aurelie eine Weile einer anderen Gruppe zu, wobei ich sie aus den Augen verlor. Ein Disput mit Madame de Tourville ist wie mit scharfen Messern zu jonglieren.“ Charles lachte kurz.
„Verstehe“, sagte Jean-Marc ernst. Er hatte den direkten Kontakt zu der Sappho bislang meiden können, wusste aber über Catherine das eine oder andere über sie. Derartige Frauen waren ihm suspekt. „Weiter?“, fragte er dann, denn es war klar, dass es ein ‚weiter‘ gab.
„Irgendwann sah Madame de Tourville wohl zufällig, wie Aurelie sich mit der jungen Comtesse Lepage unterhielt. Himmel, das Mädchen ist so eng geschnürt, dass ihr bei der geringsten Aufregung fast der Busen aus dem Ausschnitt fallen würde, sofern sie denn einen hätte. Und sie regte sich weiß Gott auf!“
„Weshalb?“ fragte Jean-Marc in seiner gewohnt sparsamen Art.
„Keine Ahnung. Ich konnte nichts verstehen. Aber Madame de Tourville entschuldigte sich abrupt aus unserem Gespräch und ging zu den beiden hinüber. Irgendwas sagte sie zu Aurelie und ich würde wetten, dass es nichts Freundliches war. Dann zerrte sie sie förmlich am Arm von der jungen Comtesse fort und hinüber zu den Polstermöbeln am Kamin. Ich wurde dann aber abgelenkt, weil Diderot mich ansprach. Er hatte wohl erstmal genug Häppchen gegessen und versuchte, mich in ein Gespräch über englische Malerei zu verstricken. Wollte wissen, ob ich bei meiner Reise auf die Insel wohl William Hogarth getroffen hätte. Er hat eine drollige Auffassung von der Größe Londons.“
„Ich verstehe“, kommentierte Jean-Marc und ließ sich nicht anmerken, dass er keine Ahnung hatte, wer William Hogarth war. Kein Franzose, soviel stand fest und damit konnte er nicht sehr wichtig sein.
Er beugte sich nun zu der Toten selbst herunter. Er berührte leicht mit den Fingerkuppen den Blutfleck, der sich im Bereich ihres unteren Rippenbogens auf die Fußfläche der Recamiere, Teile des niedrigen Endes der Rückenlehne und den rückwärtigen Seitenteilen des Möbels ausbreitete.
„Eine ganze Menge Blut“, murmelte er. Catherine, die ihm gefolgt war, gab einen unwilligen Laut von sich, als sie erkannte, dass nicht allein die Recamiere verdorben war: Im Bereich der gesamten Sitzgruppe entdeckte sie nun kleinere und größere Blutflecke auf den Armlehnen der Sessel ebenso, wie auf dem Perserteppich, dem Marmortisch und den bestickten Seidenkissen. Ihr schönen Seidenkissen! Hoffentlich konnte man sie retten.
„Sie wurde nicht hier auf dem Sofa erstochen“, meinte Jean-Marc und folgte mit den Augen der Blutspur. „Hier ist sie nur zusammengebrochen. Vielleicht versuchte sie noch, aus dem Raum zu entkommen und um Hilfe zu rufen.“
„Aber wenn sie das noch konnte, warum hat sie nicht sofort geschrien? Irgendwer hätte sie sicher auch durch die geschlossene Tür gehört.“, wunderte sich Catherine.
„Das ist eine gute Frage“, sagte Jean-Marc dazu nur.
„Monsieur de Falabraque, würdet Ihr mir wohl behilflich sein, die Tote nun umzudrehen? Wenn ich es allein versuche, wird sie mir womöglich vom Sofa fallen.“
Charles rümpfte leicht die Nase. Im Großen und Ganzen konnte er auf größere Mengen Blut gut verzichten, aber wie er seine Schwester kannte, würde sie das sonst machen. Also fasste er mit an und es gelang ihnen, die Leiche so zu drehen, dass die Würde gewahrt blieb. Er schluckte hörbar, als die blutige Vorderseite sichtbar wurde: Das Mieder des auffälligen Kleides war aufgeschlitzt und im Bauch von Aurelie d’Argentcourt steckte ein Messer bis zum Heft versenkt. Catherine gab einen gepressten Laut von sich. Jean-Marc schwieg. Er zog seine Ledertasche so vor sich, dass er sie öffnen und hineingreifen konnte. Er kannte den Inhalt so gut, als wäre die Tasche ein Teil seines eigenen Körpers. Er fand blind, was er suchte und zog ein blütenweißes Seidentuch, sowie einen flachen, neuen Beutel aus gewachster dünner Baumwolle daraus hervor. Mit dem Seidentuch umschloss er den Messergriff, und zog das Messer dann mit einiger Mühe aus der Wunde heraus, wobei er sich bemühte, es nur an dem verdickten Ende zu umfassen. Catherine wusste, dass Jean-Marc mögliche Fingerabdrücke auf der Tatwaffe erhalten und später unter seinem geheiligten Mikroskop sichtbar machen wollte. Dafür schloss er das Messer dann auch in dem Baumwollbeutel ein, damit es so wenig wie möglich verunreinigt wurde. Jeder andere Inspecteur oder Commissair de Police von Paris brachten diesem Vorgehen nur Unverständnis, zum Teil auch blanken Spott entgegen. Aber der Lieutenant General René Herault de Vaucresson hielt seine Hand über diese von ihm eigens berufenen Sonderermittler – ein Fakt, der die beiden bei den regulären Inspecteurs und Commissairs nicht eben beliebter machte.
„Kennst du Malpart näher?“, fragte Catherine etwas unvermittelt, und in erster Linie um ihren Würgereiz zu unterdrücken, der sie beim Anblick der tiefen, blutigen Wunde quälte.
„Er ist ein Ignorant, wie die ganze übrige arrogante Schar auch“, sagte Jean-Marc sachlich.
„D…Ihr mögt ihn nicht?“, erkundigte sich Catherine, wobei ihr schon wieder fast das Du herausgerutscht wäre. Charles schnaufte hinter ihr. Catherine sah ihn irritiert an.
„Was?“
„Ach nichts. Macht nur weiter. Ich musste nur mal atmen. Und ich glaube, ich mache das lieber draußen weiter. Atmen, meine ich. Vielleicht genehmige ich mir auch noch einen Schluck Eau de Vie. Das da“, er wies auf die Tote, „ist nicht gerade geeignet, um einen guten Nachtschlaf zu befördern. Oder braucht Ihr mich noch, Monsieur Liévre?“ Er lächelte den Commissaire, der kaum älter als er selbst war, mit einem hintergründigen Ausdruck an. Jean-Marc schüttelte den Kopf. Er wagte gerade nicht, etwas zu sagen. Die Gefahr, dass er krächzte oder kiekste, war gerade sehr hoch.
Kaum hatte Charles das Zimmer verlassen, fand er jedoch seine Stimme wieder.
„Hast du ihm irgendwas erzählt?“, fragte er flüsternd.
„Nein, natürlich nicht!“, versetzte Catherine nachdrücklich, wenn auch leise.
„Aber er weiß etwas“, beharrte Jean-Marc.
„Möglich. Er ist ja schließlich ein heller Kopf, unser Charles, n’est-ce pas? Aber wenn das so ist, besteht keinerlei Gefahr. Charles würde mich niemals verraten. Also beruhige dich. Wie geht das hier jetzt weiter?“
Jean-Marc schien nur halb beruhigt zu sein, schaffte es dann aber doch, sich erneut dem Tableau vor sich zuzuwenden.
„Ich würde mich hier einfach gern noch eine Weile umsehen, wenn du erlaubst. Ich kann mich am besten konzentrieren, wenn ich dabei allein bin“, sagte er zu Catherine, während er seine Augen bereits wieder schweifen ließ.
„Natürlich. Brauchst du irgendwas?“
„Nein, nein, nichts. Und wenn du zu Bett gehen willst, dann mach das ruhig. Ich kann mich nachher selbst hinauslassen.“
„Auf keinen Fall wird Thomas schlafen gehen, ehe du gegangen bist. Das erlaubt seine Ehre nicht!“, lachte Catherine. Dann wurde sie wieder ernst.
„Malpart muss inzwischen längst in Annettes Appartement gewesen sein. Wenn er sie festgenommen hat – was passiert dann weiter mit ihr?“
„Dann hat sie eine ziemlich unangenehme Nacht vor sich, fürchte ich“, sagte Jean-Marc düster. „Malpart ist ein ehrgeiziger Mann und seine Leute scharfe Hunde.“
„Heißt das, er wird sie foltern lassen?“, fragte Catherine entsetzt. Jean-Marc schwieg und das war ihm Antwort genug. „Aber das darf er nicht! Rein gar nichts ist erwiesen! Es kann genauso gut der sitzengelassene Bräutigam gewesen sein! Denk an Etienne!“ Etienne, das war vor 8 Jahren IHR sitzengelassener Bräutigam gewesen und der hatte das gar nicht gut aufgenommen.
„Nicht jeder sitzengelassene Bräutigam denkt gleich an Mord. Ist Etienne eigentlich noch in den Kolonien?“
„Mir ist nichts Gegenteiliges bekannt. Seine Verbannung wurde auf mindestens 10 Jahre ausgesprochen. Hugo hat in Honfleur und Marseille bei den Hafenmeistern dafür gesorgt, dass er informiert wird, sollte der ehemalige Marquis Vignerot de Plessis in ihrem Hafen an Land gehen. Aber natürlich könnte er auch über die Niederlande oder Italien oder weiß Gott wo zurück aufs Festland kommen. Ich hoffe allerdings, dass mir Madame Henriette einen Wink gibt, wenn ihr teurer Neffe wieder französischen Boden betritt.“ Catherine verzog das Gesicht. Damals waren ihr 10 Jahre lang erschienen, aber in jüngster Zeit machte sie sich gelegentlich Gedanken darüber was wohl passieren würde, wenn der Mann, der sie bedroht, vergewaltigt und entführt, brutal ein Pferd verstümmelt und ihre gesamte Familie beinah heimatlos gemacht hatte, zurück nach Frankreich käme. Aber sie schob den Gedanken erneut weg. Momentan gab es wichtigere Probleme.
„Kannst du herausfinden, was mit Annette geschehen ist? Und etwas für sie tun?“
„Herausfinden, ja. Etwas für sie tun – ich selbst sicher nicht. Da kann höchsten Michel an den Lieutenant Génèral herantreten und um Intervention bitten, falls Malpart gar zu sehr entgleist. Ob der Lieutenant Herault das dann macht, steht auf einem anderen Blatt.“
„Dabei war mir Malpart anfangs fast sympathisch“, murmelte Catherine.
„Ah ja?“ Jean-Marc warf Catherine einen sehr schnellen Blick zu. Wie sympathisch? Er wusste nur allzu gut, dass die Moral bei den Salons nicht immer so genau genommen wurde. Und auch, dass er kein Monopol darauf hatte, Catherines Liebhaber zu sein.
„Wenn du mich nur treu haben willst, kannst du mich gar nicht haben“, hatte sie ihm vor Jahren gesagt, als er seine Eifersucht nicht hatte bremsen können. „Ich bin nicht für die Treue geschaffen. Ich kann nur immer den jeweiligen Augenblick lieben. Du musst das akzeptieren, fürchte ich.“ Sie hatte keine Drohung, sich nicht mehr mit ihm zu treffen damit verbunden. Einfach nur eine nackte Tatsache dargelegt. Seitdem war es zwischen ihnen einfach so geblieben. Jean-Marc tröstete sich damit, dass ihre Treffen trotz allem seit nunmehr 8 Jahren regelmäßig funktionierten und sie häufig beide zum Höhepunkt brachten. Wenn sie nur etwas häufiger stattfinden würden.
„Catherine!“, rief er ihr nun gedämpft nach, ehe sie das Zimmer endgültig verließ. Sie drehte sich um. Sie lächelte ein halbes Lächeln.
„Erst muss ich wissen, was mit Annette ist“, beantwortete sie die Frage, die er nicht laut gestellt hatte.

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