Skip to content
Menu

Die Salonnière Kapitel 2

Der erste Salon der Saison

Paris, 10. Oktober 1737

„Habt Ihr denn schon dieses neue Werk von Voltaire gelesen? Ich stecke gerade mittendrin und muss sagen, dass ich teilweise fasziniert, teilweise aber auch stark befremdet bin. Diese Engländer haben gelegentlich schon eine seltsame Art und Weise, die Welt zu betrachten.“
„Ihr redet gewiss von den Éléments de la Philosophie de Newton. Voltaire hat da ein interessantes Stück Arbeit geleistet, um Newtons Theorien allgemein verständlich darzulegen. Ich bin wirklich traurig, dass ich nicht daran mitwirken konnte. Newton war ein Genie und es ist höchste Zeit, dass seine Erkenntnisse in den Bereichen der Mathematik und Physik auch hier in Frankreich publik werden!“
Catherine lächelte, als sie ihren ausladenden Reifrock an dem Grüppchen vorbeischob, das gerade den Fehler begangen hatte, in Gegenwart ihres Bruders Charles dessen Lieblingsthema anzuschneiden. Sie identifizierte die Comtesse du Lepage mit ihrer wespentaillierten Tochter, beide in jenem grellen Rosa, das diesen Herbst als dernier cri galt, den beiden aber leider überhaupt nicht stand. Außerdem den jungen aufstrebenden Maler Denis Diderot, der momentan aber sein Dasein als Anwaltsgehilfe fristete und sich keine Gelegenheit auf eine kostenlose Mahlzeit entgehen ließ, sowie Annette de Tourville und ihre angekündigte junge Geliebte Aurelie. Catherine empfand immer eine gewisse Abneigung gegen die jeweiligen Favoritinnen ihrer Freundin, aber diese hier fand sie spontan unsympathisch. Sie hatte so eine Art, schmollende Kindlichkeit mit Koketterie zu verwechseln. Catherine hasste es, wenn Frauen sich dümmer gaben als sie waren! Wenn sie Salons nichts abgewinnen, oder intellektuell dabei nicht mithalten konnte, würde das eine kurze Liaison werden.
„Voltaire hat die Éléments nicht allein verfasst. Die wesentliche Arbeit daran hat vielmehr Émilie du Châtelet geleistet!“ Dieser spitze Einwurf kam natürlich von Annette. Wann immer jemand die Leistung einer Frau zu erwähnen vergaß oder herabwürdigte, war Annette sofort zur Stelle und ritt einen verbalen Tjost, der den unglückseligen Gegner derartig in den Staub warf, dass dieser Mann sich in Zukunft dreimal überlegte, ob er diesen Fehler wiederholte. Annette sah in ihren fließenden, korsettlosen Gewändern immer so weich und weiblich aus – aber eine Perserkatze versteckte unter ihrem flauschigen Fell ja auch nadelspitzen Krallen, nicht wahr?. Catherine blieb einen Moment stehen, um zu sehen, wie Charles sich aus der Affaire ziehen würde. Er und Annette hatten sich schon früher mit großem Vergnügen verbal duelliert und häufig ging es unentschieden zwischen ihnen aus.
„Selbstverständlich hat die Vorarbeit von Madame du Châtelet Voltaire überhaupt erst auf diesen Gedanken gebracht! Aber Ihr müsst zugeben, Madame de Tourville, dass die ausgefeilte Aufbereitung von Newtons Lehren doch maßgeblich auf seine Arbeit zurückzuführen ist!“, schaffte Charles es, Annette zugleich Recht zu geben und ihr doch zu widersprechen. Hätte er sich entschieden, Anwalt zu werden, hätte er vermutlich jeden Richter in den Wahnsinn getrieben.
„Aber ist die Vorarbeit dann geringer zu schätzen als das Werk selbst? Das wäre, als würdet Ihr den Dachdecker höher schätzen als den Maurer. Aber worauf sollte der sein Dach setzen, wenn der Maurer nicht zuvor die Wände errichtet hätte?“
Catherine hätte gern weiter zugehört, um zu sehen, wie Charles sich aus der Affäre zog. Zudem schien sich nun auch die puppige Aurelie einmischen zu wollen und Catherine hätte zu gern mitbekommen, ob sich mehr als heiße Luft hinter den blauen Augen verbarg. Aber leider wurde sie an dieser Stelle abgelenkt, weil zwei neue Gäste den Salon betraten und Catherine musste ihren Pflichten als Gastgeberin walten. Kurz kniff sie die Augen zusammen, um ihre neuen Gäste zu taxieren. Die Frau kannte sie, denn es handelte sich um die eigens eingeladene Madame d’Élyssee, die heute aus ihrer neuen Romanze lesen sollte. Catherine hatte zwar längst nicht mehr so viel für Romanzen übrig wie als Mädchen in der Normandie, aber jede Frau, die die Courage hatte, zu schreiben und auch dazu zu stehen, musste unterstützt werden. Diese Einstellung hatte sie von Annette übernommen. Was Catherine aber die Augen zusammenkneifen ließ, war Madame d’Élyssees Begleiter. Sie kannte ihn nicht, aber er hatte ein Auftreten, das deutlicher als ein Ausrufer verkündete: ‚Seht her, ich bin wichtig!‘ Catherine tippte auf einen hochrangigen Offizier. Er hatte Haltung, eine Narbe, die sich vom rechten Ohr bis zum Kinn zog und wirkte, als sei er zu Zeiten sehr gut trainiert gewesen und profitiere jetzt noch davon. Er war so arrogant wie ein Kater – und sah gut aus! Catherine setzte ihr bestes Gastgeberinnenlächeln auf und ging den beiden entgegen.
„Madame d’Élyssee, welche Freude, dass Ihr kommen konntet! Herzlich willkommen. Monsieur…?“
„Lucien de Malpart, Inspecteur de Police. Enchanté, Madame du Foix!“ Der Mann beugte sich vor und hauchte Catherine einen Handkuss wie aus dem Lehrbuch auf die Fingerkuppen, wobei er es schaffte, den Rücken selbst dabei gerade zu halten. Er roch nach einer Mischung aus Kaminrauch, Parfum und Tabak, die Catherines Haut unerwartet prickeln ließ. Zwei Gedanken zuckten durch ihren Kopf: ‚Ein ein Inspecteur de Police, das erklärt, warum er so arrogant auftritt.‘ Und: Sie fand den Kater attraktiv! Endlich mal wieder ein Mann, der ihr Herz höher schlagen ließ.
„Herzlich willkommen, Monsieur de Malpart. Eure Anwesenheit in meinem kleinen Salon ist mir eine Ehre!“, sagte sie und schaffte es dabei, gleichzeitig ein wenig kokett und gelangweilt zu wirken. Sie hatte in den letzten drei Jahren viel gelernt.
„Nun, ich höre, dass Euer Salon immer häufiger erwähnt wird. In meiner Eigenschaft als Inspecteur dieses Bezirks ist es meine Pflicht, mich informiert zu halten. Also erschien es mir eine gute Gelegenheit zu sein, meine liebe Schwägerin Cecile heute hierher zu begleiten“, erklärte de Malpart, wobei er erneut sein Amt ein ganz kleines bisschen zu sehr betonte. Dabei sah er Catherine ein kleines bisschen zu intensiv an und kam ihr ein bisschen zu nahe. Catherine stellte fest, dass der Mann ihr trotzdem nicht unangenehm war. Hatte er grüne Augen oder waren sie doch eher braun? Es war nicht festzustellen, welche Haarfarbe er unter der makellosen kleine Perücke haben mochte, aber seine Brauen waren eher hell und es war nicht der Hauch eines Bartschattens in seinem Gesicht zu erkennen. War er ein Rothaariger? Seine Lippen waren etwas schmal und wirkten, als könnten sie nur mit Mühe scharfe Zähne verbergen. Sein Blick war bohrend direkt, bis zur Unhöflichkeit. Catherine musste an die Karikatur eines preußischen Militärs denken, die im Frühling in der Gazette erschienen war. Mon Dieu, wieder ein Polizist! Offenbar besaßen sie eine ganz eigene Anziehungskraft auf Catherine. Um den Mann und auch sich selbst abzulenken, drehte sich Catherine halb nach rechts und winkte einen Diener herbei, der Getränke auf einem Tablett balancierte.
„Champagner, Wein oder ein Eau de Vie de Sydre?“, fragte sie. Der Inspecteur zog eine Augenbraue hoch.
„Eau de Vie de Sydre? Was soll das sein, Madame?“
„Ihr seid bei einer Normannin zu Gast. Kostet, Monsieur le Inspecteur und sagt mir, was Ihr davon haltet.“ Damit reichte sie ihm ein Glas mit der blassgoldenen Flüssigkeit. De Malpart nahm es mit skeptischer Miene und kostete. Dann nahm er einen zweiten Schluck, größer dieses Mal. Er nickte anerkennend.
„Wenn Euer Salon so geistreich ist wie dieses Eau de Vie, verspricht dies ein sehr inspirierender Nachmittag zu werden, Madame!“, sagte er. Es war nicht schwer, mit ihm ins Gespräch zu kommen, wobei es allerdings in erster Linie um Madame d’Elyssee ging. Doch über das Geplauder hinweg tauschten Malpart und Catherine mehrfach Blicke, die vielleicht etwas mit Romanzen, ganz sicher aber nichts mit Romanen zu tun hatten. Es kam Catherine Recht, als andere Gäste sie schließlich ansprachen und fürs Erste von dem Inspecteur trennten.
Wenig später ließ Catherine ihren Blick mit Befriedigung über das Bild schweifen, das ihr Salon abgab. Ihr Salon! Allein das war so großartig! Sie hatte sich dieses Szenario ausgemalt, als sie vor 8 Jahren nach Paris gekommen war – damals ein unerfahrenes junges Mädchen vom Lande, intelligent, sicher, aber doch ohne Schliff, ohne Finesse, ohne Ruf. In nur 8 Jahren einen eigenen Salon zu etablieren, war keine kleine Leistung! Sicher der Zufall war ihr zu Hilfe gekommen. Eine Verkettung überwiegend unglücklicher Umstände hatte dazu geführt, dass das Interesse der Königin und ihrer Surintendante auf sie gefallen war. Auch Annette hatte sie durch die damaligen Ereignisse kennengelernt, was ihr entschieden half, die ersten Gäste zu sich zu locken. Charles Tätigkeiten und Verbindungen zur Académie des Sciences taten ihr Übriges. Doch die Pariser Salongesellschaft war kritisch und wählerisch. Die Fürsprache einer etablierten Gönnerin mochte die Leute zum ersten Mal über eine Türschwelle schieben. Aber um wiederzukommen, musste sich die Gastgeberin als würdig erweisen. Catherines Salon mochte noch nicht als erste Adresse gelten, wo sich die ganz Großen um Einladungen rissen, aber er gewann stetig an Ansehen. Die Renovierung dieses Zimmers hatte im letzten Jahr das seine dazu getan. Allein dass Catherine es gewagt hatte, eine Frau mit der Renovierung und Gestaltung zu beauftragen, war mit einem Raunen durch die Gesellschaft weitergetuschelt worden – wohl platziert von Adeliz Drummond, neben Annette Catherines beste und stets unglaublich gut informierte Freundin, die eine Meisterin darin war, ‚vertrauliche‘ Informationen auszustreuen. Und dann das Ergebnis: Wo andere mit Gold nur so protzten, hatte Catherines Ausstatterin es nur als kleine, indirekte Glanzpunkte verwendet. Stuck und Vertäfelung bildeten lediglich ornamentale Rahmen zu luftigen Stoffbespannungen in sonnengelb und creme. Sie hatten bequeme, ebenfalls hell bezogene Sitzmöbel scheinbar wahllos, bei näherem Hinsehen aber in geschickten Grüppchen arrangiert, die jedoch jederzeit mit wenigen Handgriffen neu angeordnet werden konnten. Catherine hatte auf überdurchschnittlich vielen Blumenvasen bestanden, die stets mit frischen Blumen und sogar in Erde eingepflanzten Bäumchen bestückt waren.
„Mitten im Winter hat man hier das Gefühl, bei einem Sommerpicknick zu sein“, hatte es eine Besucherin ausgedrückt, als Catherine den neu gestaltete Raum schließlich mit einem Literaturabend einweihte. Und schon kurz darauf war der Name ‚der Gelbe Salon‘ zum ersten Mal gefallen und hatte sich in Windeseile durchgesetzt. Adeliz hatte ihr in die Normandie geschrieben, dass sie bereits im August gefragt worden war, ob sie ihr wohl eine Einladung zu ‚dem Gelben Salon‘ verschaffen könne. Ja, alles lief wirklich gut, fand Catherine und lehnte sich mit einem feinen Lächeln ein wenig in den Seidenbezug ihres mattgelb bezogenen Stuhls, soweit ihre Korsage das erlaubte. Sie hatte viel erreicht, seit sie in Paris angekommen war und durfte sich jetzt ruhig einen Moment der Zufriedenheit gönnen.
Catherine hatte bereits herausgefunden, dass sich die Gäste am wohlsten fühlten, wenn sie ihnen keine zu engen Vorgaben machte, wie der Nachmittag verlaufen sollte. Es fanden sich immer Gruppen und Grüppchen, die miteinander debattierten und es war mehr die Auswahl der Gäste, die die Themen vorgaben als irgendeine Tagesordnung. Charles hatte inzwischen Gesellschaft von einem Freund der Académie, hieß er nicht Jeremie, bekommen und so ging es in seinem Grüppchen bereits wieder um die 1735 aufgebrochene Expedition zur Erdmessung, die die Académie ausgerüstet hatte.
„Ich hatte ja Gelegenheit, mit Moreau de Maupertuis ein langes Gespräch zu führen, ehe er nach Lappland aufbrach. Er vertritt entschieden die Theorie, dass die Breitengrade sich zu den Polen hin abplatten“, verkündete Charles Freund gerade so laut, dass es durch den ganzen Salon trug. Catherine verstand nicht recht, warum Charles sich mit diesem Wichtigtuer abgab.
„Nun, das hat ja bereits Newton so publiziert. Die Expedition dient ja lediglich dem Beleg dieser Theorie, ist an sich aber nichts Neues“, sagte Charles denn auch gelangweilt. „Mathematisch betrachtet…“
Da Catherine These und Gegenthesen kannte, interessierte es sie mehr, wer zu der Gruppe gehörte, als wie sie das Thema behandelte. Es waren immer noch Madame und Mademoiselle Lepage die hier tapfer mithielten. Es schien, als wäre vor allem die Tochter erstaunlich gut informiert über dieses Thema und sie diskutierte nun lebhaft mit den Männern der Académie. Das grellrosa Kleid lenkte den Betrachter offenbar von einem ziemlich intelligenten Geist ab.
In einer anderen Ecke waren die eher künstlerisch veranlagten Geister zusammengekommen: Madame d’Elyssee redete unter Zuhilfenahme ihrer beringten Hände lebhaft auf Madame Perrot, eine bereits etablierte Stückeschreiberin ein, die allerdings unter dem Namen ihres Gatten veröffentlichte. Der Maler Diderot hatte sich zu ihnen gesellt, warf ab und an einen Halbsatz in das Gespräch ein und verdrückte derweil ein Pastetchen nach dem Nächsten. Angesichts der schlotternden Kleider des Malers machte niemand eine Bemerkung dazu. Zwei weitere Damen und ein Herr, füllten diese Gruppe, es ging lebhaft zu. Lucien de Malpart hatte sich ein wenig von der Gruppe absentiert und er schien dasselbe zu tun wie Catherine: Die Leute zu beobachten. Es blieb nicht aus, dass sich ihre und seine Blicke dabei begegneten. Er neigte leicht den Kopf, wobei ein ironisches Lächeln seine Mundwinkel hob. Catherine behielt ein sich einen wissenden Gesichtsausdruck vor und hob nur eine Augenbraue. Sie wollte ja nicht allzu schnell allzu vertraulich mit dem Inspecteur werden. Nach einem Moment wendete sie betont den Kopf ein wenig nach rechts, um Ausschau nach den übrigen Gästen zu halten.
Annette de Tourville und ihre Gespielin Aurelie hatten eines der Canapés vor dem Kamin ergattert und schienen miteinander zu turteln. Oder nein! Catherine stutzte. Stritten die beiden etwa? Sie ging ein paar Schritte durch den Salon, um näher heran zu kommen.
„Ich lasse mich von dir ganz sicher nicht bevormunden. Das kenne ich wahrlich zur Genüge von meinem Vater, dafür hätte ich nicht all diese Mühen auf mich nehmen müssen!“ Aurelie
„Mühen? Von Mühen kann ja wohl kaum die Rede sein. Du kamst in Paris an und wirst seitdem von mir mit allem versorgt, was du brauchst und weit darüber hinaus. Aber das ist nicht der Punkt! Ich werde einfach nicht dulden…“ Annette
„Was ist der Punkt? Was?“, unterbrach Aurelie sie. Der Ton kam Catherine irgendwie bekannt vor. Aber Constance, die ihn momentan gern anzuschlagen pflegte, war erst 7 Jahre alt. Für eine junge Frau erschien er ihr doch recht unpassend. Das ging Annette offensichtlich genauso.
„Mäßige deinen Ton! Du benimmst dich wie ein Kind. Aber vermutlich liegt das daran, dass du noch eines bist. Ich habe mich in dir offensichtlich getäuscht. Bewahre wenigstens Haltung, solange wir hier sind!“, wies sie das Mädchen in unterdrückter Lautstärke zurecht.
„Und ich dachte nicht, dass du eine so fantasielose alte Schrulle sein könntest! Ich hielt dich für fortschrittlich und aufregend!“, schmetterte Aurelie zurück und dachte überhaupt nicht daran, ihren Ton dabei gedämpft zu halten.
„Niedertracht hat rein gar nichts mit Fortschritt zu tun, meine Liebe! Und jemanden zu erpressen, nenne ich niederträchtig. Niemals werde ich dulden…“
Es war an der Zeit, das Ganze zu unterbrechen, fand Catherine.
„Meine Lieben, seid ihr mit allem versorgt? Habt ihr noch Wein? Ich denke, dass wir uns jetzt bald für Madame d’Elyssees Lesung zusammenfinden werden, was meint ihr?“
Annette schaffte es, ihre Gesichtszüge so schnell in ein strahlendes Lächeln zu verwandeln, dass Catherine den Ärger, der zuvor Furchen darin gegraben hatte, nicht mehr gesehen hätte, wäre sie wirklich unbedarft herangetreten.
„Catherine, oh wir sind schrecklich unhöflich, dass wir uns so zurückgezogen haben! Aurelie und ich hatten eine Kleinigkeit zu klären und wollten deine anderen Gäste nicht behelligen.“
„Aber das ist doch selbstverständlich. Ihr seid meine Gäste und könnt tun, was euch beliebt, solange ihr euch nur dabei wohlfühlt!“, beschwichtigte Catherine lächelnd.
Aurelie gab sich erst gar keine Mühe, ihre Miene zu verstellen. Himmel, auch der bockig verzogene Mund glich dem von Constance und das sternförmige Schönheitspflästerchen, das wohl irgendwie hatte keck wirken sollen, machte es nur noch schlimmer. Jetzt starrte sie nach oben und ihre Augen sagten deutlich ‚stör uns nicht!‘ Aber Catherine ging geläufig darüber hinweg. ‚Mit kleinen bockigen Mädchen kenne ich mich bestens aus, kleines Miststück‘, dachte sie, während sie Aurelie besonders herzlich anlächelte.
„Wir hatten noch gar keine Gelegenheit, uns ein wenig zu unterhalten, Mademoiselle… oh weh, ich fürchte, Annette hat dich nur als Aurelie vorgestellt. Darf ich dich Aurelie nennen?“
Auf Aurelies Stirn erschien eine steile Falte. Indem sie sie duzte, hatte Catherine sie unmissverständlich als unmündiges Mädchen hingestellt. Andererseits, nun, es lag Aurelie nichts daran, ihren Nachnamen zu verraten. Also zauberte sie jetzt doch ein puppenhaftes Lächeln auf ihr Gesicht.
„Aber selbstverständlich, Catherine! Annette hat mir ja schon so viel von dir erzählt!“
‚Touché‘, dachte Catherine amüsiert. Vielleicht war das Mädchen ja doch nicht so dumm, wie sie erst gedacht hatte. Sie plauderten ein paar Minuten, wobei jedes einzelne Wort zwischen ihnen eine höfliche Lüge war.
Thomas, der Hausvorsteher, trat von hinten auf Catherine zu und wartete auf diese unnachahmlich unaufdringliche und gleichzeitig drängende Art darauf, Beachtung zu finden, die nur ein erster Diener vollendet beherrschte.
„Ja, Thomás?“
„Madame, da ist ein Herr an der Tür. Er wünscht eine Mademoiselle d’Argencourt zu sprechen. Mir wurde dieser Name beim Entrée von keiner der Damen genannt. Befindet sie sich dennoch unter Euren Gästen, Madame?“, fragte er in diesem diskreten und dennoch leicht verständlichen Ton, der ebenfalls zu seinem Status gehörte.
Es war nur die Reaktion von Annette und Aurelie, die Catherine verriet, von wem vermutlich die Rede war. Aurelie war plötzlich angespannte und all ihr kindlicher Trotz war verschwunden. Stattdessen sah Catherine offenen Schreck in ihren Zügen. Fragend wendete sie sich dem Mädchen zu.
„Ich nehme an, dass…“
„Wer ist es? Hat er einen Namen genannt?“, fragte Aurelie an Catherine vorbei den Hausdiener.
„Er stellte sich als Monsieur Lagrange vor.“
Aurelies Mund schloss sich zu einem schmalen Strich.
„Er weiß noch nicht, dass ich hier bin?“, versicherte sie sich bei Thomas.
„Ich sagte, dass eine Mademoiselle dieses Namens sich beim Eintreffen der Gäste nicht vorgestellt habe. Ich hieß ihn, zu warten, damit ich nachfragen kann“, gab Thomas Auskunft, wobei er sich mehr an Catherine als an Aurelie wandte.
„Soll Thomas ihn fortschicken?“, fragte sie. Eine Antwort erübrigte sich, als die Salontür aufgestoßen wurde und ein groß gewachsener Mann in der Uniform eines Offiziers der Stadtgarde hineinkam, indem er ein protestierendes Dienstmädchen beiseite schob.
„Aurelie!“, rief er mit mühelos durchdringender Stimme. „Aurelie, ich weiß, dass Ihr hier weilt. Bitte gewährt mir eine Unterredung!“
„Aber Monsieur, ich sagte Euch, dass Ihr vorn warten müsst!“ Die Worte der Hausdame Eugenie hallten förmlich durch den Salon, da es darin mit einem Mal so still geworden war, dass man die winzigen Blättchen der Chrysanthemen hätte fallen hören können, wären die nicht so frisch gewesen. Catherine straffte sich und ging einige Schritte auf den ungeladenen Gast zu, wobei sie ihren weit ausladenden Rock gekonnt zwischen Canapé und dem nächsten Beistelltischchen hindurchmanövrierte. In der Stille hörte man die Seide raschel, während ihre Schritte von dem dicken Perserteppich verschluckt wurden..
„Monsieur Lagrange, wie ich hörte?“, sprach sie ihn an, jeder Zoll die vornehme Gastgeberin. „Ich fürchte, Ihr müsst wieder gehen. Eine Mademoiselle mit dem Namen den Ihr nanntet, ist nicht hier!“
„Madame du Foix, nehme ich an, enchanté“, raffte der Mann seine guten Manieren zusammen und machte eine knappe, militärisch anmutenden Verbeugung. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, dass ich Euren Salon störe, aber ich muss meine Verlobte, Mademoiselle d’Argencourt sprechen! Es ist äußerst dringlich. Und mit Verlaub, bitte behauptet nicht, sie sei nicht hier, denn ich sehe sie dort hinten.“ Er war zu gut erzogen, um mit dem Finger hinzuweisen, aber er ruckte kurz mit dem Kinn in Richtung des Kamins. Die Köpfe aller Gäste flogen förmlich dorthin. Dort stand Aurelie nun langsam auf, Annette stand bereits.
„Mademoiselle Aurelie, ich bitte Euch, lasst uns diese Angelegenheit diskret und ohne so viele Zuhörer regeln. Ich denke, es wird Euch lieber sein, mit mir zu reden als mit Eurem Herrn Vater, nicht wahr?“ Wieder überbrückte Lagranges Stimme mühelos den Raum, ohne dass er sie besonders anstrengen musste. Unvermittelt schob sich jedoch Inspecteur Malpart vor ihn.
„Monsieur, Ihr wurdet aufgefordert, dieses Haus zu verlassen. Ich bin Inspecteur de Police, Lucien de Malpart, und ich lege Euch ein einziges Mal in aller Höflichkeit nahe, dieser Aufforderung sofort Folge zu leisten!“, sagte er mit aller Autorität seines Amtes. Lagrange musterte ihn kurz und offensichtlich völlig unbeeindruckt.
„Ich bin Lieutenant der Stadtgarde, Monsieur l’Inspecteur und es dürfte interessant werden zu klären, wessen Rang höher ist. Außerdem, wie es scheint ist Mademoiselle Aurelie nun doch willens, mit mir zu reden.“ Er sah einfach an dem Inspecteur vorbei und richtig, Aurelie kam durch den Salon auf ihn zu, dicht gefolgt von Annette.
„Ist mein Vater etwa auch hier?“, fragte sie, und es war nicht klar zu entscheiden, ob Zorn, Trotz oder Angst ihre Stimme beben ließen.
„Nein, ich kam allein, obwohl ich Euch versichern kann, dass es nicht leicht war, ihn zurückzuhalten. Madame du Foix, gibt es einen Ort, wo wir einen Moment ungestört reden können?“
„Ich werde Aurelie auf keinen Fall mit Euch allein lassen, Monsieur!“, mischte sich Annette ein die Aurelie auf dem Fuß gefolgt war. Da sie groß war für eine Frau – tatsächlich überragte sie viele Männer sogar, wenn auch nicht den Lieutenant – sah sie ihm dabei direkt in die Augen. Der verzog spöttisch den Mund.
„Wie Ihr wünscht, Madame. Oder spricht man eine Lesbierin anders an?“ Das Wort ließ er wie eine Peitsche knallen, aber Annette kräuselte nur leicht die Lippen. Sie war derlei gewohnt.
„Madame reicht völlig“, sagte sie kalt.
„Ich werde Euch gleichfalls begleiten und sicherstellen, dass…“, hob Malpart an und straffte wichtig die Schultern. Aber Annette schnitt ihm das Wort ab.
„Das wird nicht nötig sein, Monsieur l’Inspecteur. Bitte lasst Euch nicht vom weiteren Genuss dieses Salons abhalten. ich glaube, Eure Begleiterin, Madame d’Elyssee wollte gerade mit ihrer Lesung anfangen. Es wäre doch ungehörig, ihr ausgerechnet dann keine Aufmerksamkeit zu widmen. Catharine, dürfen wir deinen blauen Schreibsalon benutzen?“
Catherine konnte sich irren, aber sie meinte Malpart ‚elende Sapho‘ zischen zu hören, als sie Annette zunickte. „Ja, natürlich. Du kennst dich ja aus. Thomas, bitte geleite die Damen und diesen Herrn dorthin und stelle sicher, dass sie alles haben, was sie benötigen. Mesdames et Messieurs!“ Sie klatschte in die Hände, aber sie musste warten, bis das ungleiche Trio den Raum verlassen hatte, ehe sie die Lesung der Romanze ankündigen konnte. Arme Madame d’Elyssee, sie würde es schwer haben, dieses echte Drama zu übertrumpfen. Aber vielleicht bot es ihr Stoff für ihren nächsten Roman, nicht wahr?
Madame d’Elyssee hatte es nicht leicht mit ihrer Lesung. Zwar gaben die meisten vor, interessiert zu lauschen, aber zweimal standen Leute leise auf und gingen hinaus, wobei sie jene Gesichter machten die andeuteten, dass sie leider zwingend den Abort benutzen mussten. Da praktisch jeder Mensch von einigem Stand über eine gut trainierte Blase verfügte, um lange Bankette zu überstehen, dürfte es sich aber wohl eher um einen Vorwand handeln, um nebenan kurz an der Tür zu lauschen, dachte Catherine ironisch. Sie selbst hätte die größte Lust dazu gehabt, aber das ging nun wirklich nicht. Es entging dann jedoch niemandem, als sich die Haustür etwas später geräuschvoll schloss und rasche Männerschritte dumpf die Steintreppe hinunterstrebten. Fast war es, als ginge ein Aufatmen durch den Raum. Auch Catherine bemerkte, dass sie bis jetzt noch flacher geatmet hatte, als es die Korsage ihres Kleides ohnehin nur zuließ. Offensichtlich hatte der feurige Lieutenant nicht versucht, Aurelie aus ihrem Haus zu entführen, denn das hätten sie wohl gehört. auch nach der Lesung hörte das Rein und Raus nicht auf und selbst Malpart schien dringende Geschäfte auf dem Abtritt zu haben.
Annette und Aurelie tauchten nicht wieder auf. Zunächst nahm Catherine an, die beiden würden ihren eigenen Disput bei dieser Gelegenheit noch klären – worum auch immer es sich gedreht haben mochte. Aber die Lesung endete unter höflichem Applaus und es entspann sich eine angeregte Diskussion darüber, ob der Sklaven-Mohr in der Erzählung wirklich zu derartigen Gefühlen fähig sein mochte und ob man es überhaupt wagen sollte, einer solchen Figur so viel Raum zu geben.
Wo blieben nur Annette und Aurelie, fragte sich Catherine, die ihre Gedanken einfach von den beiden abwenden konnte. Vielleicht waren sie ja auch längst gegangen? Worum war es bloß in diesem Streit gegangen? Hatte Annette wirklich von Erpressung gesprochen? Merde, sie musste sich auf ihre Gäste konzentrieren!
„Ich finde es ja höchst gewagt, sich eine derartige Kreatur ins Haus zu holen“, sagte gerade Madame Villeneuf zu ihr, während sie wie üblich mit ihren beringten Patschhändchen wedelte und sich dabei geschickt ein Marzipantörtchen von einem vorbeigetragenen Tablett fischte. Gut so, wenn sie jetzt noch hineinbiss, würde sie das für eine volle Minute am Reden hindern, dachte Catherine zynisch. Was allerdings nur Raum für andere schaffte.
„Ich halte Mohren für eine weit weniger beunruhigende Widernatürlichkeit als manch andere“, sagte Malpart, der sich gerade entschlossen in die Gruppe rund um seine Gastgeberin geschoben hatte.
„Monsieur le Inspecteur“, begrüßte Catherine den Mann lächelnd. Sie konnte einfach nicht anders. Wann immer dieser Mann sich in ihre Aura schob, prickelte es in ihr. Entgegen ihres Vorsatzes, Madame Villeneufs Redeschwall niemals durch Widerspruch zu befeuern, sagte sie:
„Hugo, mein Mann, beschäftigt einige Mohren in seinen Lagerschuppen in Marseille und Honfleur. Ich traf sie dort und ich muss sagen, sie erschienen mir doch alle, nun, sehr menschlich“.
„Menschlich, in der Tat – was sie aber noch nicht zu wirklichen Menschen macht“, versetzte Malpart im Plauderton. Inzwischen war es draußen dunkel geworden, die Diener hatten die Leuchter entzündet und die Flamme einer nahestehenden Kerze spiegelte sich in den Pupillen des Inspecteurs de Police. „Dennoch, ich gebe Euch Recht, Madame du Foix: Auf den rechten Platz gestellt, sorgsam angewiesen und unterrichtet, ist es durchaus möglich, sie genügend zu zivilisieren, um sie nützlich zu machen. Dann reduziert sich das Abartige dieser Wesen, bei denen es Gott gefallen hat, sie so absonderlich aussehen zu lassen, auf ihr Äußeres. Viel gefährlicher verhält es sich indes mit Menschen, die ganz normal aussehen, die zivilisiert daher kommen, aber in ihrem Inneren völlig abartig sind.“ Malpart ließ seine Stimme noch immer verbindlich plätschern – und doch nahm Catherine eine Spur von Stahl an ihm wahr, die ihren albern prickelnden Bauch mit einem Schlag zur Ruhe brachte. Sie zog ihre Augenbrauen hoch – zu ihrem Leidwesen wollte es ihr nie gelingen, nur eine anzuheben, was viel kritischer und intellektueller aussah, wie sie fand.
„Ich fürchte, ich kann Euch gerade nicht ganz folgen, Monsieur le Lieutenant“, sagte sie und ließ ein leichtes Amusement in ihrer Stimme anklingen, um ihre Irritation zu überdecken. Madame Villeneuf versuchte, ihr Törtchen schneller herunterzuschlucken, um zu Wort zu kommen, aber es gelang ihr nicht.
„Ich rede von…“ Weiter kam auch Malpart nicht, denn in diesem Moment sprang die Salontür auf, dass es sie fast aus den Angeln hob und Elian platzte herein. Für einem Moment vermeinte Catherine auch Constances Gesicht zu sehen, aber dann huschte ihre Tochter offensichtlich wieder fort. Ihr blieb keine Zeit, weiter an sie zu denken.
„Maman!“, rief Elian. Sein dichtes, leicht lockiges Haar stand zerzaust von seinem Kopf ab und er trug bereits sein Nachtkleid und lief barfuß.
„Elian! SOFORT wirst du dich mäßigen und unsere Gäste geziemend begrüßen!“, schnitt Catherine ihm direkt das Wort ab. Sie richtete sich auf und schritt auf ihren Sohn zu wie ein Racheengel.
„Ich bitte um Entschuldigung, Mesdames et Messieurs und es ist mir eine große Ehre, Euch meine bescheidene Aufwartung machen zu dürfen“, haspelte Elian eilig herunter, machte einen fast perfekten Diener und strahlte dann kurz in die Runde. Er hatte noch nie an Schüchternheit gelitten. Bei den meisten Gästen breitete sich ein nachsichtiges Lächeln auf dem Gesicht aus. Was war das doch für ein entzückendes Bürschchen und wie gut, dass man sich nicht selbst um diesen Wildfang kümmern musste, n’est pas? Catherine erreichte ihren Sohn und packte ihn an den Schultern.
„Das war zwar eine akzeptable Begrüßung, doch deine Anwesenheit hier ist es nicht. Dieser Auftritt ist mit nichts entschuldbar und du wirst morgen die Konsequenzen dafür tragen!“
„Aber Maman, wenn doch in Eurem Schreibzimmer eine tote Frau liegt!“

Diesen Beitrag teilen und weiterempfehlen