Unter Paris, keine Zeitangabe
Eine Weinkaraffe musste umgefallen sein, und nun tropfte der Inhalt mit einem stetigen Tripp Tripp, Tripp von dem Beistelltischchen, auf dem sie gestanden hatte, auf den Teppich. Dort musste sich bereits eine Pfütze gebildet haben. Catherine würde auf diese typische Catherine-Art die Stirn runzeln, auf keinen Fall etwas sagen, aber vernehmlich einen Diener beauftragen, den Schaden SOFORT zu beseitigen. Annette streckte die Hand aus, um die Karaffe, die sich wohl schräg über ihrem Kopf befinden musste, zu fassen zu kriegen, aufzurichten und das Rinnsal zu stoppen. Bei Genoveva, lag sie auf dem Teppich? War sie so betrunken gewesen, dass sie das Gleichgewicht verloren und gleich hier hingestürzt war? Auf keinen Fall durften Catherines Bedienstete sie hier so finden!
Tripp, tripp, tripp. Annette de Tourville schlug die Augen auf, sah zunächst aber alles nur verschwommen. Die nächste Empfindung war Kälte. Ihr war schrecklich kalt! Das lose Kleid das sie trug, war nass, ja regelrecht durchweicht. Lag sie in der Rotweinpfütze? Warum roch es dann nicht nach Wein, sondern so – scheußlich? Annettes Verstand wurde langsam wacher, auch wenn es schwer war. Hatte sie sich wirklich derartig betrunken nach dem Streit mit Aurelie? Sie versuchte erneut, den Arm zu heben, aber es war, als bewege sie ihn durch zähen Brotteig. Es ging nur langsam und war unerwartet mühsam. Etwas klirrte. Sie bewegte ihre Füße, um sich zu stabilisieren. Wieder klirrte es, ihre Beine ruderten nur träge und unbestimmt und ihre Zehen gruben sich in irgendwas weiches, kaltes. Kalt! Ihre Füße waren eiskalt. Der Gedanke ‚wo sind meine Schuhe?‘ gab ihrem Gehirn einen unerwarteten Ruck. Unvermittelt schaffte sie es, sich aufzurichten und die Augen nun wirklich zu öffnen. Aber das führte erst recht dazu, dass sie offensichtlich in einen Alptraum zurücksank. Tripp, Tripp, Tripp – es war kein Rotwein, der auf einen Perserteppich tropfte! Emsige Wassertropfen, die an den Wänden einer Höhle herabtropften und sich dann auf dem Boden zu schlierigen Pfützen sammelten verursachten das Geräusch. Sie lag nicht auf einem durchweichten Teppich neben einem ruinierten Canapé – warum war es ruiniert? – sondern teils in, teils neben solch einer Pfütze, die nach dreckigem Flusswasser und Rattenkot stank. Mit einem entsetzten Schrei raffte Catherine ihre langen Gliedmaßen zusammen und versuchte, auf einen trockenen Fleck zu kriechen. Abermals klirrte es und dann wurden ihre Füße und Hände fast gleichzeitig zurückgehalten. Mit sprachlosem Grauen kroch Annettes Blick zu ihren Hand- und Fußgelenken. Eiserne Schellen lagen darum wie kalte, harte Blutegel. An ihnen waren Ketten befestigt, die zu eisernen Krampen in der Wand führten. Die Krampen wirkten wie die Klauen von sehr alten Teufeln, die sich tief in die Eingeweide der Erde krallten, unverrückbar in einer schweigenden Boshaftigkeit. Tripp, Tripp, Tripp. Annette keuchte entsetzt, und kurz stieg eine grauenhafte Hysterie in ihr auf. Ein Schrei, der vermutlich erst enden würde, wenn ihr die Luft ausging, wollte unbedingt aus ihrer Kehle. Aber sie war Annette de Tourville! Sie war stark! Sie war kultiviert und gebildet. Ihr Verstand war ihre stärkste Waffe und er sagte ihr, dass sie sich in einem der unendlichen Stollen befand, die den Untergrund von Paris durchzogen wie Madengänge einen Käse. Doch auch ihr herausragender Verstand gab ihr keine Antwort darauf, wie sie hierher gekommen war.
Die Zeit trippte mit den Wassertropfen und nach einer Weile machte das Geräusch Annette schier wahnsinnig. Was ihr allerdings besser erschien, als aus naheliegenderen Gründen verrückt zu werden.
Eine einzelne Fackel, die bereits weit heruntergebrannt war, steckte in einer Halterung, genau 3 Schritte außerhalb ihrer Reichweite. Sie hatte natürlich versucht, die Fackel zu erreichen. Weiß Gott, welchen Nutzen sie sich davon versprochen hatte, aber es lag einfach nicht in ihrer Natur, einfach GAR NICHTS zu tun. Was aber genau das war, wobei sie nun gelandet war. Sie hockte zusammengekauert auf einem halbwegs trockenen Fleckchen Boden, die Füße unter das Gesäß gezogen, die Arme um sich geschlungen, um so wenig Körperwärme wie möglich abzugeben und beobachtete die Flamme der Fackel. Wie lange würde es noch dauern, bis sie ausging? Eine halbe Stunde? Kürzer? Danach würde hier komplette Dunkelheit herrschen. Die Ratten, die sie aus den Winkeln belauerten, würden dann die letzte Zurückhaltung verlieren. Rattenbisse schwärten und eiterten, entzündeten sich, brachten den Tod, wusste Annette. Gerade wünschte sie sich, nicht so viel zu wissen. Dann wozu nützte ihr all das Wissen in ihrem klugen Kopf, wenn sie nichts, aber auch gar nichts tun konnte, um sich aus dieser abscheulichen Lage zu befreien?
‚Sie haben dir die Fackel nur gelassen, damit zu sehen kannst, wo du bist und dass es keinen Ausweg gibt.‘
‚Sie haben dir die Fackel nur gelassen, damit du verrückt wirst, während du dabei zusiehst, wie sie gleich erlischt.‘
‚Sie haben dir die Fackel nur gelassen, damit du glaubst, sie nütze dir etwas, um dann zu erkennen, dass sie dir nichts nützt.‘
Was zu der immer wiederkehrenden Frage führte, wer ‚Sie‘ waren. Warum wusste sie, dass es mehr als einer war?
Tripp, Tripp, Tripp. Sie hatte mit dem Fuß lockeren Boden und Unrat in die Pfütze geschoben, die ihr am nächsten lag, damit die Wassertropfen von der Wand lautlos heruntertropfen konnten. Aber es hatte nur dazu geführt, dass ihr Ohr sofort das hundertfach andere Trippsen wahrnahm, das von hunderten anderer Rinnsale herrührte. Außerdem hatte sich nach kürzester Zeit eine neue Pfütze an der alten Stelle gebildet.
Der Gangabschnitt in dem sie sich befand, bildete kurz hinter ihr eine Sackgasse. Soviel ließ der Fackelschein sie erkennen. ‚Sie haben mich im Appendix des Verdauungstraktes von Paris angekettet‘, war ihr überflüssigerweise in den Sinn gekommen. Verflixter Verstand, konnte er nicht einfach mal die Klappe halten, wenn das, was er ausspuckte, nur widerwärtig und komplett unnütz war? Aber nein, das konnte er nicht. Ein englischer Arzt, der ihr erst vor kurzem von seiner faszinierenden Erfahrung, Zeuge einer Blinddarmsektion im Londoner St. George Krankenhauses geworden war, hatte ihr in aller Ausführlichkeit von diesem Darmstückchen erzählt. ‚Bei Menschen ist es nur ein winziges Stückchen mit einem toten Ende, bei Pferden hingegen misst es einen Meter‘, hatte er erzählt, und sich an dem Schaudern seiner Zuhörer geweidet. Sie hatte schon zu diesem Zeitpunkt entschieden, diesen Mann nicht wieder einzuladen, aber das Unheil war angerichtet: In ihrem angespannten Verstand lauerte nun ständig die gehässige Vorstellung im Hintergrund, dass sie hier weder verhungern noch erfrieren würde, sondern vielmehr langsam verdaut wurde.
Zum wiederholten Male versuchte Annette, sich an alles zu erinnern was geschehen war, ehe sie hier wieder zu sich gekommen war. Sie war zusammen mit Aurelie zu Catherine du Foixs Salon gegangen. Fast hätte sie sich dagegen entschieden, weil sie sich schon zuhause mehrfach mit Aurelie gestritten hatte. Das Mädchen hatte wirklich eine Art, sie zu reizen! Mit ihr eine Liaison einzugehen, war wirklich ein großer Fehler gewesen. Aber alles hatte so hübsch angefangen und nun ja, die Geschichte des Mädchens hatte sie natürlich auch gereizt, n’est ce pas? Wenn sie vor tyrannischen Männern flohen und sie ihnen zeigen konnte, dass das selbsternannt starke Geschlecht nur so lange stark war, wie Frauen es erlaubten – verflixt, da konnte Annette einfach nie widerstehen! Leider hatte sie vorgestern herausfinden müssen, dass sie sich eine Schlange ins Haus geholt hatte. Was Aurelie getan hatte – von ihrer Adresse aus getan hatte! – war einfach ungeheuerlich!
Schlussendlich war sie zu diesem Salon gegangen, um hoffentlich den Schaden zu begrenzen. Und natürlich, um Catherines aufstrebenden Salon zu unterstützen; das war Ehrensache. Wenn Frauen andere Frauen nicht unterstützten, wer dann? Ach, Catherine, das war ein lohnendes Objekt! Eine wahre Schwester im Geiste, selbst wenn sie keine Lesbierin werden konnte.
Aurelie, das verflixte kleine Biest hatte natürlich mitkommen müssen. „Wenn du mich nicht mitnimmst, komme ich trotzdem!“, hatte sie schnippisch gesagt und Annette hatte gewusst, dass sie es genau so machen würde. Was eine Grande Blamage für Annette wäre, nachdem sie sie ja schon beide angekündigt hatte. Außerdem war es ihr ja zuvor noch gelungen, Aurelie ins Gewissen zu reden. Bei der Heiligen Brigida, sie hatte doch wirklich geglaubt, einen Einfluss genommen zu haben. Wieso war auch eine intelligente Frau wie sie immer wieder so dumm, wenn sie unbedingt an das Beste in einer anderen Frau glauben wollte?
Kaum bei Catherine angekommen, hatte Aurelie erneute mit der Geschichte angefangen. Es war fast ein Segen gewesen, als ihr Ex-Verlobter aufgetaucht war und dazwischen gefunkt hatte. Sie waren mit ihm zusammen in Catherines kleinen blauen Salon gegangen. Aber was war danach geschehen? Das Einzige, was Annette mit seltsamer Klarheit wusste war, dass Aurelie tot war. Sie lag tot über der mit feiner rauchblauer Seide bezogenen Chaiselongue und ihr Blut hatte das Möbel komplett ruiniert. Catherine würde außer sich sein, denn der Stoff hatte ein Vermögen gekostet, wie Annette zufällig wusste. Aber an den Rest konnte Annette sich einfach nicht erinnern, so sehr sie sich auch ihr Hirn zermarterte. Das sich im Übrigen entschieden dagegen verwahrte, derartig in Anspruch genommen zu werden. Es benahm sich immer noch wie eine stark beanspruchte Hure an einem Montagmorgen, die es bis zum Mittag kaum geschafft hatte, sich im Negligé bis an den Frühstückstisch zu schaffen. Das erschreckte Annette fast genauso wie ihre kalte, nasse Umgebung. Auf ihren Geist hatte sie sich bislang immer verlassen können. Hatte ihr jemand auf den Kopf geschlagen und ihr Gehirn womöglich irreparabel geschädigt? Erneut musste sich Annette beherrschen, nicht mit dem Schreien anzufangen. Lautes Schreien konnte Höhlen zum Einsturz bringen und Felsrutsche auslösen. Verdammtes Hirn, SOLCHE Informationen hatte es noch parat! Aber die wirklich interessanten Informationen, was zuletzt in Catherines Schreibzimmer passiert war, die verweigerte es ihr!
Die Flamme der Fackel zischte und das Licht flackerte, als würde es sich verschlucken. Aber dann brannte die Fackel weiter. Ihr Lichtschein reichte jetzt allerdings schon nicht mehr bis in das tote Ende des Ganges. Annette stellte sich unwillkürlich vor, wie sich in diesem Appendix ein Geschwür einnistete. ‚Eine Blinddarmentzündung, früher Seitenkrankheit genannt, führt fast immer zum Tod‘, rezitierte der englische Arzt in ihrem Gedächtnis..