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Annette 3

Irgendwann unter Paris

Etwas stimmte mit diesen Schritten nicht. Ein Mann, der sie hier hinunter geschleppt und angekettet hatte, der trug Stiefel und war groß und kräftig. Annette war eine große Frau, auch wenn sie schlank und wenig üppig ausgestattet war. Aber die Schritte die sie hörte, stammten nicht von solch einem Mann. Ja fast klang es, als wäre derjenige barfuß! Und sie waren nicht zielgerichtet und energisch, sondern eher platschend und achtlos, so als stapfe ein Kind durch eine verregnete Gasse. Jetzt war die Person stehengeblieben. Oder nein, doch nicht? Im nächsten Moment verstand Annette. Es handelte sich nicht um eine Person, sondern um mindestens zwei, vielleicht sogar mehr. Jetzt hörte sie auch zum ersten Mal Stimmen, auch wenn sie die Worte nicht verstehen konnte. Keine Männerstimmen.
„Hallo, wer ist da?“, rief Annette, schier überwältigt von dem Drang, ihrer Isolation ein Ende zu bereiten, egal, welche Art von Ende es sein mochte. Und dann, voller Selbstverachtung: „Hilfe! Bitte helft mir!“
Alle Geräusche verstummten schlagartig. Das reglose Dunkel, das sich für einen Moment scheinbar zurückgezogen hatte, walzte wieder in seiner ganzen opaken Wucht über sie hinweg.
„Bitte! Helft mir!“, wiederholte Annette ihren Ruf und merkte, dass es ihr zunehmend egal war, wo ihre Würde dabei blieb. Diese Schritte, diese Stimmen, sie durften nicht einfach wieder verschwinden!
Stille. Nichts.
„Verdammt! Ich weiß, dass ihr da seid! Ihr bekommt eine Belohnung! Eine hohe Belohnung, wenn ihr mir helft!“, schrie Annette und freute sich über ihren Zorn, der allemal besser war als verzagte Verzweiflung.
Da! Ein Geräusch. Ein Wispern, fast nur die Idee eines Geräuschs. In einer anderen Umgebung wäre es einfach untergegangen. Aber hier, mit ihren geschärften Sinnen, konnte Annette es so deutlich hören wie daheim das silbrige Schlagen ihrer zierlichen Tischuhr.
Die schlurfenden, plätschernden Schritte setzten wieder ein. Setzten wieder aus.
„Hier bin ich!“, rief Annette, so absurd eine solche Richtungsangabe auch sein mochte.
Wieder ein Wispern.
„…Versteck…“
„…nicht sicher…“
„…aber…“
„…ohne mich…“
„…nicht gut…“

Dann waren wieder Schritte zu hören. Schritte, die sich entfernten!
„Wartet! Lauft nicht weg! Bitte!!“, schrie Annette und hoffte, dass sie sich nie wieder derartig würde betteln hören müssen.
Dann schoben sich Schritte, einzelne Schritte, näher heran. Und schließlich waberte tatsächlich auch Licht heran. Im ersten Moment begriff Annette es gar nicht, aber dann meldeten sich ihre Augen zum Dienst zurück.
„Hier bin ich“, sagte sie und riss sich zusammen, nicht zu schluchzen.
Dann musste sie geblendet die Augen zusammenkneifen, als der echte Fackelschein und nicht nur seine Abbildung an der Wand, um die Ecke bog. Die Gestalt, die die Fackel trug, konnte sie nur als Schemen ausmachen.
Das Licht rußte stark. Es musste sich um eine Lumpenfackel handeln, die man in irgendein billiges Fett getunkt hatte. Wie lange würde sie halten?
„Wer bei den Titten der Jungfrau bist du denn? Was machst du hier unten?“, fragte der Schemen hinter der Fackel, als er nah genug herangekommen war, um sie begutachten zu können. Vulgäre Gossensprache.
„Ich werde hier gefangen gehalten“, bemühte sich Annette um eine ruhige Auskunft. Wer auch immer hinter dem Licht steckte, war misstrauisch wie eine Straßenkatze und vermutlich beim kleinsten Anlass schneller verschwunden als ein Pastetchen, das dem Maler Diderot in die Finger geriet. Zum Beweis streckte sie ihre Hände vor, sodass die Schellen mit den Handketten deutlich zu sehen waren.
„Putain!“, rief der Schemen mit so etwas wie interessierter Überraschung aus. Dann endlich senkte er die Fackel soweit, dass Annette die Gestalt sehen konnte: Ein Mädchen, dessen Alter irgendwo zwischen 9 und 15 liegen mochte, schmutzig, mager mit verfilzten Haaren. Wilde, misstrauische Augen starrten aus all dem Dreck auf diesen seltsamen Fund.
„Ja, Putain de merde“, nahm Annette behutsam den Wortschatz des Mädchens auf. Es war unfassbar, dass ihr Wohl und Wehe gerade in den dürren Händen eines Straßenkindes lag.
„Du hast was von einer Belohnung gesagt. Also, wie sieht es aus?“, fragte das Mädchen ohne weitere Umschweife. Sie kam keinen Schritt näher, wahrte einen sicheren Abstand und blieb sprungbereit, als wäre Annette nichts als ein Köder in einer besonders raffinierten Falle.
„Ja, natürlich. Du wirst eine riesige Belohnung bekommen. Aber zuerst musst du dafür sorgen, dass ich hier freikomme.“
„Na sehr lustig. Soll ich diese Ketten etwa durchbeißen?“, versetzte das Mädchen mit dieser ätzenden Ironie, die ihre Sorte samt und sonders beherrschte.
„Natürlich nicht. Aber du kannst jemandem Bescheid sagen, wo ich bin. Du kannst Hilfe holen und hierherführen.“
„Damit jeder dann unseren Schlupfwinkel kennt? Nä, ich glaube nicht“, wehrte das Mädchen ab.
„Nun, für eine große Belohnung muss man natürlich auch eine große Leistung erbringen. Das ist überall so im Leben“, erklärte Annette und nahm all ihre Selbstbeherrschung zusammen, das Mädchen keine dumme Göre zu schimpfen.
„Wie groß ist die Belohnung?“, fragte das Mädchen skeptisch.
„Was würdest du dir denn vorstellen?“, gab Annette die Frage zurück.
„200 Sous“ stieß das Mädchen ohne nachzudenken einen Betrag hervor, der für sie einfach unfassbar viel Geld darstellte. 20 Sous ergaben ein Livres – aber das war keine Währung, die einen Platz in der Welt dieses Mädchens gehabt hätte. 200 Sous, dafür konnte man zur Zeit fast einhundert Brote kaufen, sofern man sich mit der einfachsten Qualität zufrieden gab. 10 Livres, ein wahrlich geringer Preis, diesem Ort, dieser Situation zu entkommen.
„Ich gebe dir 250 Sous, wenn du in die Rue Saint Antoine 6 läufst, im Haus des Weinhändlers du Foix Madame Catherine informierst und sie oder jemanden den sie schicken will, hierherführst. Sag ihnen, dass sie Werkzeug mitbringen müssen, um diese Ketten aufzubrechen.“ Annette machte einen beschwörenden Schritt auf das Mädchen zu, bis sich die Kette straffte. Das Mädchen wich zurück, als wären sie beide gleichgepolte Magnete, die sich abstießen. Annette hielt sofort inne – das Mädchen auch.
„Ich weiß nicht recht“, sagte es, sichtlich zerrissen zwischen der Aussicht auf so viel Geld und den Gefahren die es für sie barg, am Haus reicher Leute zu klopfen.
„Das sind sehr, sehr nette Leute“, versicherte Annette ihr. „Du musst ihnen sagen, dass Annette de Tourville dich schickt. Sag es mir nach: ‚Annette de Tourville‘“
Das Mädchen schwieg verbissen und Annette konnte sehen, wie es auf seiner ohnehin schon rissigen Unterlippe herumbiss.
„Was würdest du dir denn am meisten wünschen und dir von dem Geld kaufen?“, fragte Annette, einer spontanen Eingebung folgend. Das Mädchen riss ein wenig die Augen auf.
„Frisches Brot. Und Eintopf von den Garküchen. So welche mit Fleisch drin. Und Küchlein! Süße Küchlein! Und dann Schuhe! Und ein warmes Umschlagtuch. Aber am meisten wünsche ich mir, dass ich einen Monat lang keine Freier machen muss!“ Das Mädchen überlegte ein Weilchen, schüttelte dann traurig den Kopf. „Alles geht wohl nicht“, sagte sie dann nüchtern.
„Ich kaufe dir Schuhe und ein Umschlagtuch und so viele Küchlein wie du tragen kannst und ds Geld kriegst du obendrauf!“, versprach Annette. Kurz erschien es ihr, als würden die Augen des Mädchens aufleuchten – was aber im trügerischen Licht der rußenden Fackel nicht sicher war. Doch am Herabsinken der Schultern konnte sie sehen, als die Zweifel sofort wieder die Oberhand gewannen.
„Du kannst mir hier ja alles versprechen. Aber am Ende kriege ich nur Prügel und gehe leer aus. Das kenne ich von euch feinen Leuten schon!“
„Mehr als versprechen kann ich es dir nicht. Aber das kann ich dir sagen: Wenn du es machst, hast du zumindest die Chance auf Schuhe, Umschlagtuch, Küchlein und 200 Sous. Wenn du es nicht machst, hast du keine“, versetzte Annette trocken und gab jeden Versuch auf Schmeichelei auf. Und genau dieser Ton schien der richtige zu sein.
„Wenn ich es nicht mache, bist du vor allem am Arsch!“, sagte das Mädchen und schien jetzt fast zu grinsen. Annette nickte nur. Und langsam nickte auch das Mädchen, ehe es sich abwendete.
„Annette de Tourville und Rue Saint Antoine 6, du Foix, Madame Catherine“, leierte es so vor sich hin, dass Annette es hören konnte. „Annette de Tourville und Rue Saint Antoine 6, du Foix, Madame Catherine“. Damit war sie schon fast an der Kreuzung, wo der tote Gang von Annette offensichtlich den nächsten mündete. Das Licht schien ihr wie einem Sog zu folgen, hinter sich nur Schwärze zurücklassend. In wenigen Sekunden würde es wieder so dunkel wie in einem Grab sein. Annette biss die Zähne zusammen. Natürlich konnte das Mädchen die Fackel nicht bei ihr lassen, da sie sie selbst brauchte, um nach draußen zu kommen. Trotzdem, um ein Haar hätte sie gerufen, nein geschrien, dass sie ihr Licht hierlassen sollte. Bitte!
„Annette de Tourville und Rue Saint Antoine 6, du Foix, Madame Catherine“ Das klang jetzt schon recht entfernt und gleich darauf versiegte das Licht, tanzte noch kurz über die Wand des kreuzenden Ganges und dann verschwand auch das. Annette war wieder allein ihrem Appendix. Allein mit einer sehr vagen Hoffnung auf Hilfe. Aber immerhin war das mehr, als sie vor kurzem noch gehabt hatte. Oder auch nicht.

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