Ein lausiger erster Tag
Lucas beobachtete missmutig die im Takt des energischen Trabes auf und ab wippende Mähne der Cob-Stute, während er zum hundertsten Mal versuchte, das Gewicht über seinem Hintern so zu verschieben, dass der nicht schmerzte. Eine geradezu aufdringlich kräftige Märzsonne erleuchtete und erwärmte einen Tag, der in krassem Gegensatz zu seiner eigenen düsteren Gemütslage stand.
„Jetzt sind wir bald da“, sagte Tad, und bemühte sich um einen aufmunternden Ton.
„Na, da freue ich mich aber“, sagte Lucas bitter, obwohl er sich nicht sicher war, ob Tad so etwas wie Sarkasmus verstand. Er wusste selbst erst seit kurzem, dass man das so nannte und ganz im Allgemeinen war es in den Midlands nicht üblich, das Gegenteil von dem zu sagen, was man meinte. So blinzelte Tad, der ein zuverlässiger Verwalter, aber kein kompliziert denkender Mann war, auch nur leicht verunsichert zum jüngsten Sohn seines Brotherrn, des mächtigen Yeoman John Fletcher hinüber. Für sein Alter groß und genauso dunkelhaarig, grauäugig und mit einer etwas zu großen Nase ausgestattet wie alle männlichen Fletchers, war er aber im Inneren irgendwie gänzlich anders geraten. Es war nicht Tad gewesen, der das festgestellt hatte, denn derlei Gedanken machte Tad sich nicht. Aber seit die Köchin das neulich gesagt hatte, fand auch Tad, dass Lucas irgendwie anders war. Die beiden älteren Brüder, ja, die kamen ganz nach dem Vater: altersgemäß zwar mit Flausen im Kopf aber doch fleißig, gottesfürchtig und ganz und gar der Scholle verhaftet, die die Fletchers und mehr als ein Dutzend anderer Familien ernährte. Aber Lucas – der steckte seine Nase in Bücher, die nicht die Bibel waren, der sprach lange Sätze, die weit über den Verstand eines Zehnjährigen hinausgingen und dachte Gedanken, die Tad in den zweiunddreißig Jahren seines Lebens noch nie gekommen waren.
„Es ist doch eine große Ehre, dass du nach Welbeck in Dienst geschickt wirst“, versuchte Tad, den Jungen, der neben ihm auf dem Sitzbrett des hochrädrigen Karrens saß, dessen Ladefläche voller hellgrün glänzender Kohlköpfe war, erneut aufzumuntern. Dass Lucas sich ständig von einer Pobacke auf die andere schob, ignorierte er. Ebenso gut wie die meisten Knechte, Pächter und Bediensteten von Fletcher Farm wusste er genau, warum der Junge eine fast vierstündige Fahrt auf einer harten Holzbank gerade noch schlechter aushalten konnte als normal. John Fletcher verstand sich darauf, die Weidenrute mit ruhiger Exaktheit und Treffsicherheit zu führen, wenn er seine Söhne wegen Unbotmäßigkeit bestrafte und nach allem, was man so hörte, hatte Lucas seine Hiebe mehr als verdient gehabt.
„Ich gehe da nicht hin! Ich will da nicht hin. Marcus und Matthew dürfen doch auch hier bleiben. Warum schickst du mich fort?“, sollte er seinem Vater dreist erwidert haben, als der ihm verkündet hatte, dass er zum hochherrschaftlichen Welbeck Abbey, dem großen Schloss der Cavendishs, Earls of Newcastle in Dienst geschickt wurde. Dabei war das eine schier unfassbare Ehre, wenn der Sohn eines Yeoman in den Haushalt eines Peers aufgenommen wurde. Wohlgemerkt, nicht einfach als Knecht, sondern als ein Lehrling des Verwalters, hieß es. John Fletcher schien große Pläne mit seinem Jüngsten zu haben – aber offensichtlich wusste dieser das rein gar nicht zu schätzen.
„Ehre, pah! Warum lässt er diese Ehre nicht Marcus oder Matthew angedeihen?“, erwiderte Lucas denn auch auf Tads Einwand und zog so finster seine Brauen zusammen, wie ein Zehnjähriger das mit so hellen Brauen nur tun konnte.
„Nun, dein ältester Bruder Marcus erbt natürlich mal irgendwann den Hof und dein zweitältester Bruder Matthew wird ihm dabei zur Hand gehen. Aber für mehr Söhne ist da kein Platz, wenn du mehr werden willst als nur ein Knecht. Und es ist ganz normal, dass die jüngeren Kinder in Dienst geschickte werden, wenn sie so alt sind wie du. Das ist überall so. Ich bin zu euch geschickt worden, da war ich erst acht, weißt du?“, sagte Tad gelassen. Und er hatte ja Recht. Kaum ein Kind in England wurde in der eigenen Familie erzogen, wenn es älter als zehn war. Sie gingen zu einem Lehrherrn, wenn die Eltern sich das Lehrgeld leisten konnten. Wenn nicht, verdingten sich die Kinder zehn bis fünfzehn Jahre als Knechte und Mägde, bis sie vielleicht einmal genügend Geld beiseite gelegt hatten, um einen eigenen Hausstand zu gründen. Die vom Adel wurden in anderen Haushalten erzogen, gingen gar studieren und wurden später Peers der Krone oder Kirchenmänner. So war das Leben eben bestellt und es war ziemlich undankbar von Lucas Fletcher, sich gegen seinen Vater aufzulehnen, der ihm doch eine Stelle so weit über dem eigenen Stand besorgt hatte.
„Warum willst du da denn nicht hin?“, versuchte Tad es nochmal, als neben ihm nichts als bockiges Schweigen zu hören war, das sogar das muntere Traben der Cobstute zu übertönen schien.
„Weil die da bestimmt ganz anders sind. Das ist Hochadel, weißt du? Da kommt der König hin und die reden anders und all das“, versuchte Lucas zu erklären, auch wenn er sich selbst wenig überzeugend dabei fand.
„Du redest auch anders“, lachte Tad auch prompt. „Du liest Bücher, du reitest heimlich unsere Maggie hier“, er deutete mit dem Peitschenende auf die Cobstute, die ihre feinen Ohren neugierig nach vorn gerichtet hielt, weil sie hier vermutlich noch nie gewesen war, „und du diskutierst über alles und jeden und handelst dir ständig Ärger damit ein.“
„Ich verstehe einfach nicht, warum Vater mich dahin schickt! Leute wie Cavendish, die haben alles, bestimmen alles, tun jedoch nichts dafür. Vater mag Menschen doch gar nicht, die nicht arbeiten!“, rief Lucas aus.
„Aber es ist die von Gott gewollte Ordnung der Dinge“, antwortete Tad mit dem der die Midlander so typischen Gleichmütigkeit. „Und vielleicht schickt dein Vater dich ja gerade deshalb dorthin, weil das die Leute sind, die die alles bestimmen.“ Das war eine überraschend klarsichtige Erkenntnis von Tad und sie brachte Lucas für einen Moment zum Verstummen. Das mit der von Gott gewollten Ordnung hatte sein Vater gestern Abend mit der Weidenrute auf den Hintern tätowiert. „Wem schuldest du Gehorsam? Gott (Zitsch!), König (Zitsch), Lord (Zitsch) und deinem Vater (Zitsch, Zitsch). Und nun vergisst du das nie wieder!“ Nun, so lange die Striemen auf seinem verlängerten Rücken brannten sicher nicht.
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als Maggie den Karren mit Schwung einen Hügel hinaufzog, so dass die Schafe, die dicht an der Straße geweidet hatten, mit einem empörten Blöken auseinander spritzten. Aber Lucas beachtete sie nicht, denn von hier oben sah er zum ersten Mal Welbeck Abbey und der Anblick verschlug ihm für einen Moment die Sprache. Noch nie in seinem Leben hatte er ein derartig großes Anwesen gesehen. Einstmals eine Abtei, wie der Name noch immer verriet, war sie nach der Auflösung der Klöster durch Henry XIII an einen seiner Höflinge verkauft worden. Von diesem hatte Charles Cavendish, der Vater des aktuellen Earls William, das Anwesen gekauft. Jeder Besitzer hatte Baumaßnahmen durchführen und die ursprüngliche Anlage erweitern und verändern lassen. Auch jetzt konnte man sehen, dass an einem Ende fleißig gebaut wurde. Die Gärten und der Park erstreckten sich fast über das gesamte Areal der Ebene rund um das Schloss.
„Welch eine Verschwendung von Fläche!“, entfuhr es Lucas. „Da könnte man eine Menge Weizen anbauen.“
„Vermutlich. Aber denk mal, wie viele Leute da Arbeit finden, um das Ganze zu pflegen“, meinte Tad pragmatisch. Lucas sagte erstmal nichts mehr. Widerstreitende Gefühle tobten in seinem Kopf und Bauch. Ein Teil von ihm sträubte sich, wollte nach Hause, zurück in sein gewohntes Leben. Aber ein anderer Teil, der, der ihm ständig Ärger eintrug, meldete sich nun und fragte vorwitzig, ob es nicht sehr aufregend sein könnte, in diesem großen Schloss, das ganz gewiss auch eine Bibliothek enthielt, zu leben. Und dann gab es da noch etwas, was ihn eigentlich magisch nach Welbeck Abbey zog: Pferde! Jeder wusste, dass der Earl of Newcastle ein Pferdenarr war, ein großartiger Reiter und dass er die schönsten Pferde in ganz Europa kaufte, um sie seinem Marstall zuzuführen. Und Pferde waren auch für Lucas die wundervollsten Geschöpfe der Welt!
„Ob ich dort richtig reiten lernen darf?“, fragte er unvermittelt und eigentlich nicht wirklich an Tad gerichtet.
„Du kannst doch schon richtig reiten. Und keine Ahnung, ob du das darfst. Schätze, sowas ist nur was für Adelige. Dir wird bestimmt keine Zeit für solche Flausen bleiben.“
„Das werden wir ja sehen“, murmelte Lucas trotzig, obwohl er wusste, dass Tad vermutlich Recht hatte. Der kurze Moment, wo die Neugierde eine prickelnde Erwartung in ihm geweckt hatte, verging wieder und machte erneut der Furcht vor einem gänzlich neuen Leben, von dem er nicht wusste, was es ihm bringen würde, Platz. Und angesichts der Größe von Welbeck Abbey wurde ihm jetzt noch schwummeriger. Der Hof seines Vaters war in ihrer Gegend der größte von allen. Yeoman John Fletcher galt als der reichste und mächtigste Freibauer rund um Scalway und sein Wort wog schwer unter den übrigen Männern. Er hielt mehr Land als mancher Esquire und es hieß, der eine oder andere Gentleman, der es nicht verstanden hatte, mit seinem Geld zu haushalten, stünde bei dem Yeoman Fletcher in der Kreide. Er nahm Einfluss auf die öffentlichen Geschicke des Countys und fungierte häufig als Geschworener bei Gericht. Was John Fletcher sagte, hatte ebenso viel Gewicht wie der Inhalt seiner Geldschatulle und Lucas war in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass seine Familie wichtig war.
Angesichts von Welbeck Abbey wurde ihm nun schlagartig klar, dass die Welt weit größer und sein Vater nur ein eher kleiner Hecht in einem Dorftümpel war. Seine kleine innere Rebellion fiel in sich zusammen und was blieb, war ein Gefühl von Verlassenheit und Furcht.