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Sandra-Will-Schreiben

Leseprobe »Tödliche Reitkunst«

Pays d’Auge, 9. Mai 1729

Und dann brach der Gesang der Amsel plötzlich ab und ging in jenes metallische Zetern über, das „Gefahr, Eindringlinge, Mordio“ verkündete. Es war wohl Philippes fast träumerischer Verfassung geschuldet, dass ihn ein derartig tiefgründiger Schreck durchfuhr, wie es sonst nur eine lebensgefährliche Situation vermocht hätte
„Da ist Besuch gekommen“, sagte Catherine, die ähnlich aufgeschreckt wirkte wie ihr jüngerer Bruder.
„Um diese Zeit?“, wunderte sich Charles, und ihm war anzuhören, wie angewidert er von der Vorstellung war.
„Der Abbé hat vorhin die Glocken der Dorfkirche zum Totenläuten geschlagen. Vielleicht hat es sich schon herumgesprochen und es kommt jemand zum Kondolieren“, riet Constanza, aber auch ihr Ton war befremdet und widerwillig. Es war nicht üblich, dass man nach einem Todesfall derartig eilig seine Aufwartung machte. Allgemein gestand man der Familie zu, in Ruhe Abschied zu nehmen.
Das Lärmen draußen, das allen Frieden zerstört hatte, schwoll an. Durch zwei Hausecken gedämpft aber doch deutlich waren Pferdehufe auf dem Kies zu hören, Männerstimmen, die Unverständliches riefen, aber ganz und gar nicht nach zurückhaltender Kondolenz klangen. Dann wurde es auch schon in der Halle unruhig. Diener liefen, etwas, das fallen gelassen wurde, vielleicht ein Besen, klapperte laut und dann war deutlich zu hören, wie die Eingangstür aufgerissen wurde.
„Was ist das für ein nachlässiger Empfang hier! Heda, du, melde mich meinem Vater an!“, war deutlich der herrische Ton eines jungen Mannes zu hören.
„Nicolás!“, sagte Constanza und Philippe erinnerte sich später, dass ihr blankes Entsetzen ihn erstaunt hatte. „Wie konnte er so schnell….? Oh, das ist natürlich Unsinn. Er muss ohnehin auf dem Weg hierher gewesen sein. Hätte ich doch nur…!“, murmelte Constanza und Philippe hatte seine Mutter selten so konfus gesehen. Hektisch sah sie sich im Zimmer um.
Alle rappelten sich auf die Füße. Mathilde wachte verstört auf und begann leise zu weinen.
Draußen schien Bertrand mit pietätvoll gesenkter Stimme gerade die Situation zu erklären.
„Tot?“, war Nicolás’ Stimme dann deutlich zu hören. Eine Pause entstand. „Tot.“ Dieses Mal war es keine Frage, sondern eine Feststellung in der – Erleichterung mitschwang? Dann, mit hörbarer -Genugtuung: „Das ändert natürlich alles!“
Philippe hörte es und ihm dämmerte, dass dies prophetische Worte waren. Ab jetzt war Nicolás der Comte de Falabraque – und er sah niemanden, der sich gerade in diesem Zimmer befand, wirklich als seine Familie an.
Constanza schien sich wieder gefangen zu haben. „Philippe, rasch, der Sekretär, Schublade unten links. Nimm die Papiere heraus, die du dort findest. Steck sie dir unters Hemd und verschwinde sofort durchs Fenster damit. Versteck sie außerhalb des Hauses. Keine Fragen, rasch!“
Philippe blinzelte einmal, wie um sein Unverständnis abzuschütteln und tat dann genau das was seine Mutter ihm gesagt hatte.
Constanza gab Charles und Cathérine einen Wink, nahm selbst Mathilde vor sich und alle erhoben sich und bildeten eine Front zur Tür hin.
Philippe hatte sich den mageren Inhalt besagter Schublade geschnappt. Er hörte, dass sich energische Schritte der Tür zum Herrenzimmer näherten, und dass Bertrand offensichtlich zu intervenieren trachtete. „Was bildest du dir ein, dich gegen deinen Comte zu stellen?“, war Nicolás’ Stimme überlaut und direkt vor der Tür zu hören. Mit einer gewagten Hechtrolle warf Philippe sich durch das offene Fenster, rollte sich draußen ab, wobei er leider alle aufsprießenden Schwertlilien plattdrückte und presste sich dann geduckt an die Hauswand, um aus der Sichtweite des Herrenzimmers zu verschwinden. So schlich er sich davon. Drinnen hörte er, wie Nicolás irgendwas sagte, was nicht freundlich klang. Er kümmerte sich nicht weiter darum und machte, dass er fortkam.
Constanza sah ihrem Stiefsohn mit stählernem Blick entgegen. Und obgleich sie weit über einen Kopf kleiner war als er gelang es ihr, ihn von oben herab zu betrachten. Ein Umstand, der Nicolás sogleich in Rage brachte.
„Hinaus!“ befahl er kalt. „Alle hinaus aus diesem Zimmer! Untersteht euch, hier etwas mitzunehmen! Was habt ihr euch bereits unter den Nagel gerissen, was mir zusteht?“, fauchte er völlig unvermittelt und ließ seinen Blick schweifen, als erwarte er, sämtliche Schubladen und Fächer herausgerissen und die Bücherregale geplündert vorzufinden.
„Nicolás! Der Leichnam deines Vaters liegt hier. Erweise ihm den nötigen Respekt“, gab Constanza uneingeschüchtert zurück.
Hinter Nicolás schauten zwei weitere Männer, nach der neuesten Pariser Mode gekleidet, neugierig durch die Zimmertür herein. Das gab Nicolás offensichtlichen Aufwind.
„Das werde ich. Sobald du und deine Brut euch hinausgeschert habt! Ihr habt mir die Liebe meines Vaters schon vor langer Zeit gestohlen. Mein Erbe werdet ihr mir nicht stehlen. Hier ziehen jetzt andere Zeiten auf!“, blaffte Nicolás.
Constanza musterte ihn. Dann nickte sie sehr langsam. „Ja, das denke ich mir. Gott helfe dem Gut und der Grafschaft“, sagte sie leise aber stählern. Mit einem großen Schritt trat Nicolás drohend auf sie zu und erhob die Hand, um sie zu schlagen.
„Das wagst du nicht!“, schrie Catherine ihn an und schob sich furchtlos zwischen Nicolás und ihre Mutter. Sie hatte früher das vielleicht beste Verhältnis zu ihrem Halbbruder gehabt, und sie dachte nicht einmal darüber nach, dass er sie schlagen könnte. Tatsächlich ließ Nicolás die Hand wieder sinken und starrte sie an.
„Geht alle hinaus! Wo ist der Kleine, Philippe?“
„Vermutlich im Stall, wo er immer ist“, gab Catherine unerschrocken zurück. „Er benimmt sich mehr wie ein Pferdeknecht denn wie ein Edelmann. Er dürfte sich an der Mähne irgendeines Gauls ausweinen.“
Nicolás stieß ein verächtliches Schnaufen aus. „Dann leistet ihm Gesellschaft oder was auch immer. Aber dieses Zimmer ist für euch ab sofort tabu!“
„Dann erlaube, dass die Diener den Körper deines Vaters hinausbringen, damit wir ihn angemessen für das Begräbnis vorbereiten können!“, verlangte Constanza und wich keinen Zoll zur Seite.
„Von mir aus“. Zum ersten Mal warf Nicolás einen Blick zur Chaiselongue, und der Anblick des Toten nahm ihm einiges seiner aufgeblasenen Selbstsicherheit. „Von mir aus“, wiederholte er. „Und jetzt raus. Und schafft mir die kleine Schwachsinnige aus den Augen, möglichst dauerhaft!“, ergänzte er noch, als sich seine Halbgeschwister an ihm vorbei nach draußen bewegten. Constanza schloss Mathilde schützend in ihre Arme und bugsierte sie rasch nach draußen. Die beiden Begleiter von Nicolás traten höflich beiseite doch der eine sah so anzüglich in Catherines Ausschnitt, dass sie versucht war, ihn zu ohrfeigen.
„Was gibt es da zu glotzen?“, fauchte sie ihn an. Der Mann, er war vielleicht dreißig, grinste anzüglich. „Oh, eine Menge, mein hübsches Täubchen!“, sagte er leise und streckte einen Finger nach ihrem Kinn aus. Sie biss so schnell zu, dass er um ein Haar seine Fingerkuppe verloren hätte.
„Holla! Eine Wildkatze!“, lachte er und wirkte einzig amüsiert, und kein bisschen erschrocken oder gar beschämt. Cathérine fühlte ein unterschwelliges Grauen. Gut Falabraque, das ihnen allen immer eine sichere Burg gewesen war, war ohne einen Handstreich der Gegenwehr in Feindeshand gefallen, wie es schien. Es war ihnen keine Zeit geblieben, die Zugbrücke hochzuziehen oder Truppen zu sammeln, wie es in den alten Ritterromanen immer beschrieben wurde. Mit dem Feind aus der eigenen Familie hatte niemand so schnell gerechnet.